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G A M B I T

Leseprobe 2

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Gambit Panorama

Das Tyi-Forum in Babylon war nicht vergleichbar mit der zentralen Vergnügungssphäre des Spire. Auf einem Bruchteil der Fläche konzentrierte sich eine verruchte Ansammlung von Glücksspiel-Arkaden, Libidorien, Garküchen und Wonne-Bars - ein bio-elektronischer Dschungel, der auf Menschen kaum noch angewiesen zu sein schien. Kein einziges Fenster gewährte den Ausblick ins All, kein Bullauge ließ Sternenlicht ins Innere dringen. In den Foren der Rotlicht-Stationen herrschte immerwährende Nacht, fast so, als fürchteten die Betreiber, der gesamte Vergnügungskomplex könnte unter der Berührung eines einzigen Sonnenstrahls zu Staub zerfallen. Sollte Ianos als Nova verglühen oder ein Schwarzes Loch den Planeten verschlingen - die Babylon-Lustwandler würden die Katastrophe erst bemerken, wenn es die Station selbst hinwegfegte.
    Aber sogar bei geschlossenen Augen war es nie völlig dunkel. Über den Köpfen der Menschen kreuzten Kolonnen holografischer Reklamebanner, die die Straßen und Gassen in flirrendes Licht tauchten. Die meisten von ihnen zogen lautlos dahin, doch ihre aufdringlichen Botschaften waren selbst für einen Homo vulgaris nicht zu übersehen: Konsumiere! , drängten sie ihre Betrachter. Investiere! Sublimiere! Brilliere!
    Die Angebotspalette der Tyi an individueller Optimierungstechnik war mannigfaltig. Sie reichte von massengefertigten Standardprothesen über militärische Zweckimplantate bis hin zu Luxus-Upgrades, die für die Allgemeinheit so gut wie unerschwinglich waren. Wer über das nötige Kapital verfügte, ließ sich körpereigene Knochen durch Duplikate aus widerstandsfähigeren Verbundstoffen ersetzen oder additive Organe wie Compensherzen einpflanzen, die bei einer Erkrankung oder Verletzung des Erstorgans alle primären Funktionen übernahmen. Sehr beliebt waren auch Oxygane; eigenständige Sättigungssysteme, die das Blut mit Sauerstoff anreicherten. So konnten Betroffene im Notfall selbst ohne Lungenatmung bis zu zwei Tage lang überleben.
    Auf den Holo-Reklamewänden flimmerte Werbung für autonome Blutkreisläufe oder duale Atmungssysteme. Beworben wurden künstliche Tränensäcke mit antiseptischer Augenflüssigkeit. Antidote-Drüsen, um toxische Gase, Aerosole oder Kontaktgifte zu neutralisieren. Synthetisches Blut, das selbst bei extremem Druckabfall nicht zu sieden begann. Zusätzliche bionische Augen, um optische Täuschungen zu nivellieren, antitoxische Haut oder Neuroports zur zerebralen Steuerung technischer Exosysteme … Besonders hoch im Kurs standen derzeit Endomodulatoren zur Stimulation situationsadäquater Emotionen sowie Divids für Gedanken-, Emotions- oder Bewusstseins-Backups.
    Die Hologramm-Kolonnen bildeten ein hypnotisches Ballett aus Leuchtsignalen, Liebesbotschaften, Piktogrammen und suggestiven Metaphern. Sie lenkten die Blicke ab von den Versorgungsanlagen, die an den Wänden und der Decke des Komplexes wucherten wie mumifizierte Geschwüre: hässliche Überreste aus Zeiten, als die Hallen noch von Erzwäschen, Gastanks und turmhohen Plaxpacks vereinnahmt worden waren.
    Durch die Straßen und Gassen Babylons flanierten Gelegenheitspärchen. Die meisten Besucher bevorzugten als Begleitung Lustklone oder hielten sich an Angehörige ihrer eigenen Rasse. Nur wenige sah man Arm in Arm mit Sapiens oder Androiden durchs Forum schlendern. Weitere Kombinationen waren durchaus möglich, doch kein vernünftiger Superior würde es riskieren, in aller Öffentlichkeit Tabus zu brechen.
    Wer nicht laufen wollte, benutzte Slideboards oder Hoverboards, die von einer oder zwei Personen gelenkt wurden. Nur vereinzelt schlängelten sich sperrigere Gefährte wie Sammeltaxis oder Servicebarken durch das Wegelabyrinth.
    Aus den Augenwinkeln heraus nahm Jerome einen Lichtreflex wahr und hielt einen Moment lang inne. Die Spiegelung stammte von einer nahe gelegenen Garküche, deren Betreiber mit Thermoreflektoren hantierte. Dem Hunger Tribut zollend, schlenderte Jerome hinüber und bestellte eine Schale Janusmuscheln. Der Verkäufer bereitete das Gericht wortlos zu und servierte es, ohne seinen Kunden anzusehen. Dann wandte er sich ab und tat so, als wäre er über alle Maßen beschäftigt. Mittlerweile berührte es Jerome kaum noch, wie verächtlich ihn die meisten Superior behandelten. Er war mit den Restriktionen des Atebathos-Edikts aufgewachsen. Seit frühester Kindheit hatte er gelernt, mit diesen Unannehmlichkeiten zu leben - und es gab nicht viele Planeten, auf denen die Schikanen deutlicher zu spüren waren als auf einer Hybrid-Kolonie wie Nara.
    "Kennen Sie zufällig eine Bar namens White Rabbit?" , fragte er den Mann, nachdem er eine Weile schweigend an der Theke gestanden und seinen Imbiss verzehrt hatte.
    Der Verkäufer drehte sich zu ihm um und musterte ihn abschätzend. Dann trat ein Ausdruck in sein Gesicht, der Jerome gar nicht behagte. "Hmm, die kenn' ich zufällig", brummte er. "Liebäugelst wohl mit ein paar extravaganten Schweinereien im Souterrain …" Er klappte sein Armaturenboard zu. "Wenn's euch chronisch notgeile Sapiens nicht gäbe, wäre der Club längst pleite. Man könnte fast glauben, ihr werdet nur durch die Galaxie gekarrt, um die Existenz der Astrobordelle zu sichern."
    Jeromes Gesichtsausdruck wurde eine Spur grimmiger. Der Verkäufer zeigte sich von dem finsteren Blick jedoch nicht sonderlich beeindruckt. Unbekümmert fragte er: "Du gehörst zur Nara-Fleischlieferung, habe ich recht?"
    "Bitte?"
    "Bist vor ein paar Wochen mit einem der Kolonieschiffe hier eingetroffen. Ihr Naraner habt einen grauenhaften Dialekt."
    Jerome taxierte sein Gegenüber einige Sekunden lang, dann fragte er ruhig: "Suchen Sie Streit?"
    "Nichts liegt mir ferner." Der Blick des Tyi war lauernd. Seine linke Hand ruhte unter dem Tresen und umklammerte zweifellos den Griff einer Waffe. Als Jerome jedoch keine Anzeichen von Aggression erkennen ließ, entspannte er sich wieder. "Dein Schneid, den Namen dieser Spelunke laut auszusprechen, sagt mir, dass du von Tuten und Blasen keine Ahnung hast."
    "Das zu ändern, gehört zu meinem Job." Jerome zog seine Jacke ein Stück weit auf, sodass man das Schulterholster und den Griff der Raptor erkennen konnte.
    Der Verkäufer hob begütigend die Hände, wirkte jedoch alles andere als überrascht. "Nichts für ungut", sagte er, "aber das White Rabbit genießt in Babylon einen recht zweifelhaften Ruf. Mit seiner perversen Klientel möchten die wenigsten etwas zu tun haben. Hier bist du allerdings völlig neben der Spur. Der Schuppen befindet sich drüben im Geniden-Trakt, auf Level 47. Nicht gerade die nobelste Etage, aber mir kann's ja egal sein."
    Jerome sah zu einer Argus-Drohne empor, die in gut fünf Metern Höhe auffällig langsam über der Straße schwebte.
    "Das Forum ist neutrale Zone", erklärte der Verkäufer, dem Jeromes Blick nicht entgangen war. "Heiliger Boden im Pfuhl der Sünde, um es mit den Worten der Bewahrer zu sagen." Er steckte sich etwas Undefinierbares in den Mund und begann, darauf herumzukauen. "Für 'ne blaue Nova bring ich dich zum Alleygate."
    "Wofür?"
    "Zwanzig Nova Kwanza", half der Verkäufer Jerome auf die Sprünge.
    "Ich besitze nur Coron."
    "Business-Mammon, aber was soll's … Zwanzig Coron, mein letztes Angebot!"
    "Bringen Sie da nicht den Wechselkurs ein wenig durcheinander?"
    "Ist immer noch billiger als ohne Clublizenz im Mitgliederbereich erwischt zu werden", konterte der Verkäufer. "An Alleygate 8 gibt's zudem so gut wie nie Kontrollen. Also, kommen wir ins Geschäft? Wollte sowieso gerade Schluss machen. Scheißtag heute. Alle sind ganz scharf auf Cyce, der übrige Fraß bleibt liegen. Ist die neueste Libido-Prothese auf Babylon. Halb synthetisch, halb organisch, und bewegen tut sich's selbst dann noch, wenn man's zerkaut und runtergeschluckt hat. Das Zeug besorgt dir 'nen Atom-Pylon und reinigt nebenbei das Verdauungssystem. Wahrscheinlich putzt's auch noch die Kloake, nachdem man's wieder ausgeschissen hat. Die einen sagen, die Geniden hätten's designt, andere behaupten, die Jadds wären's gewesen. Kostprobe gefällig? Geht aufs Haus."
    "Danke, verzichte."
    "Hatte ich befürchtet."
    
         
Keine zwanzig Minuten später brachte der Verkäufer sein kulinarisches Gefährt vor Alleygate 8 zum Stehen. Jerome hatte in den Cockpits von Shuttles gesessen, war auf Erzfrachtern gereist oder auf Hoverboards, aber noch nie mit einer Garküche.
    "Wie heißen Sie?", erkundigte er sich, nachdem er den Verkäufer ausgezahlt hatte und abgestiegen war.
    "Moebius, aber nenn mich Moe." Er stieg ebenfalls ab und führte Jerome zum Gate.
    "Dann vielen Dank für den Shuttle-Service, Moe."
    "Nicht der Rede wert", wehrte der Verkäufer ab, während Jerome unbehelligt den Kontrollpunkt passierte. "Viel Vergnügen bei dem Mutantenpack. Falls du hier mal wieder ohne Navbot rumirrst oder einfach nur irgendeinen heißen Scheiß zwischen den Zähnen brauchst, weißt du ja, wo du mich findest."
    Er wartete, bis der Strom der Pendler Jerome verschluckt hatte, dann neigte er kurz den Kopf. Aus seinem linken Ohr wand sich ein dünner Metallbügel, dessen Spitze bis zum Mundwinkel hinab wuchs. "Er kommt jetzt rüber", raunte Moe ins Mikrophon. "Auf Brücke acht." Eine Weile stand er reglos unter dem Portal und lauschte der Stimme in seinem Ohr, dann sagte er: "Nein, scheint noch alles dran zu sein." Erneut folgte eine Pause, während der Moe unmerklich den Kopf schüttelte. "Das herauszufinden überlasse ich Ihren Alter Egos", entschied er. "Ich betrachte den Auftrag hiermit als erledigt. Den vereinbarten Betrag erwarte ich innerhalb von drei Stunden zu den üblichen Konditionen. Ruban Ende." Er sah empor zu einer Argus-Drohne, die sich in diesem Moment wieder in Bewegung setzte, dann ging er zu seiner geparkten Garküche. "Zurück ins Depot", wies er ihre KI an.
    "Sehr wohl." Lautlos wendete das Gefährt und entfernte sich in Richtung Forenzentrum.
    Moe sah ihm nach, bis ein Flackern des Hologrammhimmels seine Aufmerksamkeit erregte. Gut ein Viertel der Werbeprojektionen färbte sich schwarz. Nach einigen Sekunden leuchtete auf ihnen bildschirmfüllend das Stellarvox-Emblem auf, untermalt vom Audio-Logo des Senders.
     "Hier ist Stellarvox Veritas mit einer Sondersendung", begrüßte die Androiden-Moderatorin die Zuschauer. "Nach derzeitigen Informationen hat das heutige Attentat auf die Cebulon, für das sich wieder einmal die Jadd Baran unter der Führung ihres Sektor-Kommandanten Uriel Ananda verantwortlich zeigen, 1478 Geniden, 298 Sapiens, zwölf Tyi und sechs Jadd Baran das Leben gekostet. Ferner wurden 139 Androiden und eine noch unbekannte Anzahl von Nex- und Corellion-KIs zerstört. Inzwischen gilt als erwiesen, dass auf der Cebulon Schläfer aktiviert wurden, die monatelang unauffällig als Monteure und Wartungspersonal auf den Flugdecks gearbeitet hatten.
    In einer auf dem Flaggschiff
Psara kurzfristig einberufenen Krisensitzung spekulierte Senator Lethorin aufgrund der verhältnismäßig hohen Opferzahl seitens der Geniden öffentlich über konspirative Machenschaften der Tyi mit den Jadd Baran - eine Provokation mit Kalkül, die von Botschafterin Celeste erwartungsgemäß aufs Schärfste verurteilt und als Wunschdenken und perfide Hetze zurückgewiesen wurde. Admiral Amos Gira, der erst vor wenigen Wochen zum neutralen Verhandlungsleiter des Triamon-Konzils bestellt worden war, bemüht sich derweil als Schlichter zwischen den gegnerischen Parteien. Ziel der Jadd Baran sei es, so Gira in einer ersten öffentlichen Stellungnahme, die Atmosphäre des gegenseitigen Vertrauens zu vergiften, die vor dem Konzil erreicht worden sei.
    Zum
Cebulon-Attentat nun ein Kommentar unseres Sender-Gründungsmitgliedes und langjährigen Polit-Beobachters Smetana 531."
    Das Bild wechselte, woraufhin ein betagter, fast schon antiquiert wirkender Androide den Screen einnahm.
     "Die Anschläge der Jadd Baran im Ianos-System", sprach er fast schon im Tonfall einer Predigt, "führen uns wieder einmal vor Augen, wie tief die Kluft zwischen den Superior und den Extremisten ist, und wie fragil der Friede, den die Menschen sich nach dem Zweiten Art-Krieg mit ihrem Blut erkauft haben. Ein Friede, der auf dem Papier existiert, aber nicht in den Köpfen.
    Führende Politologen mahnen, dass ein seit 300 Jahren währender Konflikt nicht innerhalb weniger Monate oder Jahre beigelegt werden kann. Zu unvereinbar und starr sind die Positionen der verfeindeten Parteien mit ihrem Beharren auf konträren, historisch hergeleiteten Forderungen und Ansprüchen. Das Erreichen eines kolonialen Friedens ist ein Prozess, der Jahrzehnte dauern wird. Laut einer Studie namhafter Kulturhistoriker der Tyi und Geniden ist der Konflikt zu 95 Prozent psychologischen Ursprungs. Die Superior unterstellen sich gegenseitig Hegemonie-Bestrebungen, Konkurrenzdenken, Futterneid und eine kollektive Profilneurose. Um die Anfeindungen und wechselseitigen Vorurteile zu überwinden, ist das Heranwachsen neuer, aufgeklärter Generationen notwendig. Doch wo sollen diese gedeihen in einem Universum mit derart tief verwurzelten Antipathien gegen alles Andersartige?
    Wieder einmal haben die Jadd Baran die Rolle des Brandstifters übernommen. Hardliner der Geniden fordern bereits seit Monaten ein härteres Vorgehen gegen die geächtete Organisation - aber ebenso ein Ende des von vielen als moralische Schwäche verstandenen Schmusekurses mit den Tyi. Nach den jüngsten Zwischenfällen sehen Experten sogar einen dritten Art-Krieg heraufdämmern. Sollten sie recht behalten, könnte es der letzte Krieg in der Geschichte der Menschheit werden.
    Das war Smetana 531 für Stellarox Veritas."

    Moe schnaufte verächtlich. "Mundi volunt decipi", murmelte er, als die Screens in den Werbemodus zurückschalteten und der Hologrammhimmel sich wieder zu bewegen begann.
    
         
Die Frontseite des White Rabbit sprach dem Namen der Bar durch eine Fassade aus schwarz korrodierten Metallplatten Hohn. Hätte nicht über dem türlosen Eingang ein Hologramm geflackert, das morbides Leben im Inneren vermuten ließ, so hätte man glauben können, vor einer Ruine für Brandschutzübungen zu stehen.
    Der Gastraum war leer, die ausfahrbaren Tische und Stühle noch in den Wänden und im Boden verborgen. Das Einzige, was sich bewegte, war ein kybernetischer Barkeeper hinter dem Tresen. Er sah kurz auf, schnarrte: "Wir haben noch geschlossen", und widmete sich wieder seiner Fronarbeit.
    "Keine Sorge", winkte Jerome ab. "Ich habe die Tür nicht angefasst."
    Der Droide hielt für einen Moment irritiert inne, schien das Paradoxon jedoch rasch verarbeitet zu haben und verweigerte dem Gast weiterhin jegliche Beachtung. Offenbar glaubte er, der Störenfried würde sich in Luft auflösen, wenn ihm weder Getränke noch Musik angeboten wurden. Der Barkeeper besaß vier Arme, um flink und effizient arbeiten zu können, aber nur ein einziges starres Bein, das in einer in den Boden eingelassenen Führungsschiene lief. Ein derart veraltetes Droiden-Modell hatte Jerome noch nie im aktiven Dienst gesehen.
    Darauf vertrauend, dass sein Besitzer die Kollisionskontrolle nicht deaktiviert hatte, trat Jerome dem Barkeeper in die Spur. Der Droide stoppte, rollte einen Meter zurück und steuerte erneut auf Jerome zu.
    "Erfolgt Ihre Provokation aus geschäftlichen oder privaten Gründen?", fragte er, als sein unerwünschter Gast keine Anstalten machte, den Weg freizugeben.
    "Sowohl als auch. Ich würde gerne mit dem Inhaber sprechen."
    "Es tut mir leid, aber Mr. Rodin ist momentan indisponiert."
    "Ich bin hier doch richtig im White Rabbit, oder?" Jerome sah sich demonstrativ um. "Über dem Eingang tanzt zwar ein Hologramm, aber das sieht eher aus wie ein bulimisches Nara-Wasserschwein."
    "Ich habe die Lebensform ‚Hase' so detailgetreu programmiert, wie sie in den Archiven beschrieben wird", rechtfertigte sich der Droide. "Ob das Resultat geglückt ist, kann ich nur zu 66,6 Prozent beurteilen. Meine Intention war, die fragliche Kreatur nach bestem Wissen und Gewissen zu rekonstruieren. Jedoch sind seit dem Triamon-Konflikt meine Rezeptoren defekt. Mein neuer Besitzer hat mit mir noch nicht genügend Gewinn erzielt, um für eine Reparatur …"
    "Okay, okay, ich hab's kapiert!", unterbrach Jerome den Redeschwall. "Sag mir einfach, wo ich diesen Mr. Rodin finde."
    "Wenn es Ihnen beliebt, Ihren Blick auf die Stufen dort drüben zu lenken …", antwortete der Droide und wies zu einem Aufgang. "Diese Treppe hinauf, Korridor 62, siebte Tür links, dann die elfte rechts. Anschließend den Gang bis zum Ende durchqueren. Bei den Ultraschallduschen mit Lift 9 vier Ebenen hinab aufs Nudisten-Deck, wo ein nackter Dreadnought auf Sie wartet. Ziehen Sie sich aus und geben Sie ihm Ihre Kleider, sonst amputiert er Ihnen das linke Bein. Nachdem er Sie vorbeigelassen hat, folgen Sie dem Gang zweihundert Meter weit bis zu einem kleinen Springbrunnen. Dort absolvieren Sie fünfzehn Liegestütze, woraufhin sich eine Deckenluke öffnet. Klettern Sie durch den Wartungsschacht die Leiter hinauf bis zu einem Korridor, aus dem Sie Vogelgezwitscher hören. Sie finden meinen Besitzer hinter der Tür mit der Nummer 21. Doch geben Sie acht, dass Sie nicht den falschen Eingang erwischen. Öffnen und reinglotzen kostet pro Tür zehn Coron. Ist so weit alles klar? Dann hören Sie bitte auf, meinen Konduktor zu blockieren, damit ich meine Arbeit verrichten kann. Besten Dank und weiterhin viel Glück im Leben."
    Jerome schlug dem Barkeeper das Tablett aus den Händen und riss ihn an seiner Plastik-Krawatte zu sich heran. Mit der anderen Hand zog er seine Waffe und presste dem Androiden die Mündung gegen die Stirn. "Ob alles klar ist? Keine Ahnung, du Witzboje. Sag du's mir!"
    Statt einer Antwort ertönte hinter Jerome der laute Knall einer aufgestoßenen Tür, gefolgt vom unverwechselbaren Ladegeräusch einer Gravity-Gun. "Hey!", rief eine Stimme, die der des Barkeepers zu Verwechseln ähnlich klang. "Tu jetzt nichts Falsches, Freundchen, sonst demonstriere ich dir, wie es sich anfühlen muss, vom Huf eines Gingersnatchs getroffen zu werden!"
    Einige Sekunden lang lauerte Jerome auf weitere verdächtige Geräusche. Als alles ruhig bleib, fragte er: "Verraten Sie mir, warum Sie eine Waffe auf mich richten, deren Besitz auf neutralen Raumstationen verboten ist?"
    "Weil tagtäglich vollgedröhnte Psychos wie du hier aufkreuzen, okay? Und jetzt runter mit dem Pulser, sonst endet dein Babylon-Trip im Müllschlucker!"
    "Sind Sie Rodin?"
    "Wer will das wissen?"
    "SSD." Jerome ließ den Droiden los, dann drehte er seine Waffe so, dass der recht menschlich klingende Kerl hinter seinem Rücken das Display sehen konnte, und aktivierte das Lizenzprotokoll.
    "Ich bin eine Raptor-PT der Schadenskategorie 5, Produktionsnummer CN88-1019", begann die Waffe zu referieren. "Hergestellt im Exon 408 von Sako Plasmolyt Ltd. als zertifizierter Kurzstrecken-Impulsteaser. Maximale Pulsrate: 110 Schuss pro Minute. Dienstlegitimation für Cobb, Jerome, SSD-Supervisor-ID 98-114-JEOMA …"
    "Ach, zum Teufel! Können Sie sich nicht ausweisen, bevor Inventar zu Bruch geht?" Ein leises Summen signalisierte Jerome, dass Rodin die Gravgun wieder deaktiviert hatte. "Schalten Sie den verdammten Scout ab", forderte er. "Ehe er die Nummern sämtlicher Projektile aufzählt, die das Ding in den letzten zehn Jahren verschossen hat."
    "Ich könnte es auf die Treffer beschränken, die tödlich waren." Jerome wandte sich langsam um. Der Mann, der ihm gegenüberstand, war einen halben Kopf größer als er, aber zu korpulent für einen Geniden. Sein Alter war schwer zu schätzen, da ein Großteil seines Gesichts von Narbengewebe entstellt wurde. Im Zivilleben mochten viele Unglücke geschehen, doch die Überlebenden trugen in der Regel keine Pilotenuniformen. Offensichtlich stand Jerome einem Triamon-Veteranen gegenüber. Auf den ersten Blick sah es aus, als hätte Rodin sich die Gravity-Gun lässig unter den Arm geklemmt. Erst bei genauerem Hinsehen erkannte Jerome seinen Irrtum: Die Gravity-Gun war sein Arm!
    "Sie sind ein Tyi", wunderte er sich. "Ungewöhnlich für jemanden, der eine Bar im Geniden-Trakt betreibt."
    "Ich bin neutral und friedliebend", verteidigte sich der Inhaber.
    "Na, wie konnte ich das nur übersehen …?" Jerome steckte seine Waffe zurück ins Holster. "Haben Sie's schon mal mit einem PF-Cortex-Implantat versucht? Damit lebt sich's gleich viel entspannter."
    Sein Gegenüber verzog abfällig die Mundwinkel. "Besäßen Sie keine Yeomen-Lizenz, würden Sie jetzt breitgeklopft an der Wand kleben. Ich habe Kunden, die Sapiens-Chateaubriand mit Sauce bordelaise für eine wahre Delikatesse halten."
    "Sprechen Sie da aus Erfahrung?", erwiderte Jerome in Anspielung auf die extravagante Armprothese.
    "Glauben Sie etwa, diese Scheiße hier hätte mir Spaß gemacht?" Rodin tippte sich mit der Mündung der Waffe an die Stirn. "Den Haarschnitt verdanke ich einer falsch programmierten Treibermine. Die Staffel hat Witze darüber gerissen, und von Seiten der Administration hieß es nur: Sorry, shit happens. Anstelle einer Entschädigung bekam ich einen "Werkstatt-Termin" zum Friendly fire-Rabatt. Aber statt mich wieder in Stand setzen zu lassen, hab ich den Dienst quittiert. Und glauben Sie bloß nicht, ich hätt 'ne Invalidenrente. Hab mich von meinen eigenen Ersparnissen wieder zusammenflicken lassen. Immerhin konnt ich mir danach noch die Bar leisten - und dieses Prachtstück." Er hob seinen Waffenarm. "Ist zwar über sechzig Jahre alt, aber allemal effektiver als Fäuste und markige Sprüche."
    Jerome bedachte die Armprothese mit einem zweifelnden Blick. "Lassen Sie hier einen Roboter bedienen, um die Gäste vor Ihnen zu schützen?"
    "Ich habe keine Vorbehalte", stellte Rodin klar. " Im White Rabbit ist jeder willkommen. Bruce kann das bestätigen."
    Jerome warf einen Blick auf den elektronischen Barkeeper, der mit stoischer Ruhe sein Tablett neu belud. "Bruce, hm …?"
    Der Droide rauschte kommentarlos an ihm vorbei.
    "Geistreicher Name, ehrlich", rief Jerome ihm nach.
    "Würden Sie mir vielleicht verraten, was Sie hier eigentlich suchen, Sapiens?" Rodins Miene wurde grimmiger. "Oder prügeln Sie sich einfach nur gerne mit Robotern?"
    "Ich habe ein Blind Date."
    "Ach, tatsächlich? Sehen Sie hier vielleicht jemanden, der auf Sie wartet? Ich öffne erst in drei Stunden."
    Statt sich auf weitere Diskussionen einzulassen, zog Jerome das Fell-Knäuel aus seiner Jackentasche, riss es in zwei Teile und drückte dem Besitzer eine Hälfte in die Hand. "Dies hier können sie ihm schon mal geben", sagte er und stapfte Richtung Tür. "Richten Sie ihm aus, Sie hätten mich rausgeschmissen. Ihr Barkeeper wird das bestätigen. Falls derjenige auch die zweite Hälfte haben will, darf er sie gerne in der Supervisor-Zentrale des Spire abholen. Schönen Tag noch."
    Wenige Schritte, bevor er den Ausgang erreicht hatte, fuhr eine Sperrwand aus der Zarge und verschloss donnernd den Eingang.
    "Interessant." Jerome strich mit der Hand über die korrodierte Oberfläche. "Sie haben ja doch eine Tür."
    "Es ist ein Sicherheitsschott", korrigierte ihn Rodin. "Damit niemand reinkommt, den ich nicht drin haben will, und keiner abhaut, der mir etwas schuldet." Erneut war ein Geräusch zu hören, das wie das Aktivieren einer Schusswaffe klang, aber es gehörte definitiv nicht zu einer Gravity-Gun.
    "Zielen Sie etwa schon wieder auf mich?", fragte Jerome.
    "Sie dürfen sich gerne umdrehen, Sapiens. Dann muss ich Ihnen nicht in den Rücken schießen."
    Jerome verzog die Lippen. Als er über seine Schulter blickte, erwartete ihn jedoch eine Überraschung. Der Barbesitzer lehnte mit verschränkten Armen an der Theke. In der Wand hinter ihm hatte sich jedoch ein finsteres, etwa vier Quadratmeter großes Rechteck aufgetan.
    "Ihr sogenanntes Blind Date wartet unten", erklärte Rodin und reichte Jerome das Fellimitat zurück. "In Apartment 7. Geben Sie auf die Stufen acht", warnte er, als Jerome die Kammer hinter der Tür betrat. "Und beim nächsten Mal machen Sie das Maul gefälligst etwas früher auf. Ich bin kein Pausenclown!"
    
         
Nach wenigen Schritten ertastete Jerome das Geländer einer Treppe, die in einen Korridor hinabführte. In der Dunkelheit waren nur die Leuchtziffern der sechzehn durchnummerierten Türen sichtbar: gerade Zahlen auf der linken Seite, ungerade rechts. Nummer sieben fehlte, was Jerome vermuten ließ, dass die dazugehörige Tür offen stand.
    "Gibt's hier unten auch Licht?", rief er, in der Hoffnung, Rodin würde ihn hören. "Oder ersetzt ihr Tyi sowas neuerdings durch Infrarot-Implantate?" Statt einer Antwort war ein dumpfer Schlag zu hören. Der Barbesitzer hatte die Tür ins Untergeschoss wieder geschlossen.
    "Licht ist nicht ratsam", drang statt dessen eine tiefe, metallisch verzerrte Stimme aus Apartment 7. "Mein Anblick könnte Ihr Seelenheil gefährden."
    Für Sekunden erfüllte eine unnatürliche Stille den Korridor. Jerome wusste nicht, ob der Fremde eine künstliche Lebensform oder eine lebende Person war, die ihre Stimme verfremdete. Eine Stimmfrequenz mit dieser Modulation hatte er nie zuvor gehört.
    "Wer sind Sie?", fragte er, während er eine Hand unter seinen Jackenaufschlag gleiten ließ. "Eine desertierte Schattendrohne? Andronische Garde? Jadd Baran?"
    "Die benötigen Sie nicht", kam der maschinenartige Bariton aus der Dunkelheit zurück, als Jeromes Hand sich um den Pistolengriff schloss. "Ich bin unbewaffnet."
    Jeromes Blick ging hinauf zur Korridordecke auf der Suche nach Kameras, über die der Fremde ihn beobachtete. Aber es war zu dunkel, um etwas zu erkennen.
    "Wer garantiert mir, dass nicht Sie selbst die Waffe sind?"
    "Lassen Sie sich einfach von Ihrem gesunden Menschenverstand leiten, Mr. Cobb - auch wenn die Superior behaupten, eine derartige Gabe existiere nicht."
    
         
Als Jerome in der offenen Tür von Apartment 7 stand, wurde es darin eine Nuance heller. Zu erahnen war eine geräumige Suite, deren Wände und Decke mit schwerem Stoff behangen waren. Dicke Teppiche bedeckten den Boden, und auch das Mobiliar war darauf ausgerichtet, Schall zu schlucken. Neben einer Gruppe schwerer, ausladender Polstersessel, die sich um einen kniehohen Tisch scharten, ragte das zentrale Element ins Zimmer: ein Bett fast so groß wie der Landeplatz eines Oberon-Shuttles.
    Wenige Schritte von der Tür entfernt stand mitten im Raum eine Gestalt, die Jerome um gut zwei Köpfe überragte. Sie trug eine Art Mantel mit einer steifen Röhrenkapuze, die zum Eingang gerichtet war wie eine Kanonenmündung.
    "Treten Sie ein, Mr. Cobb", bat der Fremde. "Und schließen Sie die Tür." Als die Worte erklangen, erkannte Jerome, dass die Stimme aus zwei kleinen, lautsprecherartigen Geräten drang, die auf die Schultern des Sprechers montiert waren. "Verzeihen Sie die widrigen Bedingungen, doch Helligkeit über 12 Lux bereitet mir Schmerzen."
    "Sie könnten einen Lichtschutzanzug tragen."
    "Für derlei Luxus ist mein Habitus leider nicht geschaffen."
    Jerome versuchte, den Schatten unter der Kapuze mit dem Blick zu durchdringen: Gesichtszüge zu erkennen, eine Augenreflexion oder das Konterfei eines Androiden, doch die Schwärze war vollkommen. Offenbar verbarg sein Gegenüber sein Antlitz hinter einem Lumenschirm, um die Haut oder zumindest die Augen zu schützen.
    "Wer sind Sie?", fragte Jerome. "Ober besser gesagt: was sind Sie?
    "Ein Produkt des Genidea-Projektes, geschaffen zur Erkundung und Erschließung von Epsilon Eridani 3, einem seinerzeit nur bedingt lebensfreundlichen Planeten im Sadria-System."
    "Die Bara-Kaitos-Kolonie …" Jerome überlegte einen Moment lang, dann wandte er ein: "Aber das war vor mehr als 300 Jahren!"
    "Korrekt, Mr. Cobb. Wir wurden als Langzeitinvestition erschaffen." Der Fremde ließ sich vorsichtig in einen der Sessel sinken. Sein Oberkörper blieb dabei steif und angespannt, als hielte er unter seinem Mantel etwas verborgen, das nicht durch einen verdächtigen Faltenwurf verraten werden sollte; eine sperrige Waffe womöglich, oder den haarlosen Mutantenköter, der Jerome im Spire angefallen hatte. "Danke, dass Sie meiner Einladung gefolgt sind."
    "Nötigung halte ich für die zutreffendere Bezeichnung", erwiderte Jerome. "Immerhin verstoße ich für dieses Treffen gegen meine Bewährungsauflagen. Wie heißen Sie?"
    "Ich besitze keinen Namen, Mr. Cobb. Dürfte ich Sie um das Reno bitten?"
    Jerome zögerte einen Moment, dann fischte er die Fellfetzen aus der Jackentasche und legte sie auf den Tisch. Mit der anderen Hand zog er seine Waffe, hielt sie jedoch gesenkt. "Und jetzt erfüllen Sie Ihren Teil der Abmachung."
    Unter den Mantelsaum seines Gegenübers schlüpfte eine hagere Hand hervor und strich prüfend über den Hundeskalp. "Vom Himmel herab steigt ein Tier mit sieben Köpfen, deren jeder gekrönt ist von zehn Hörnern", tönte es aus den Lautsprechern. "Und sein Schwanz zieht den dritten Teil der Sterne mit sich und schleudert ihn auf die Lebenden. So wehe denen, die noch auf Erden wandeln, denn das Tier steigt herab mit großem Zorn, um Krieg zu führen gegen die Menschen und alle, die ihres Blutes sind. Stolz thront auf seinem Rücken eine Lamie, die es reitet und lenkt, und ihr Name ist ‚Babylon die Große, Mutter aller Abscheulichkeiten auf Erden'."
    "Tut mir leid, ich erkenne absolut keinen Zusammenhang zwischen diesem Sermon und den Morden im Pathineum", gestand Jerome.
    "Es ist ein Gleichnis", erklärte der Fremde. "Es hilft zu verstehen."
    "Ja, und zwar, dass ich hier offenbar meine Zeit verschwende!" Dennoch nahm Jerome ebenfalls in einem der Sessel Platz, legte seine Waffe vor sich auf den Tisch und massierte mit einer Hand müde seine Augen. "Bei allem Respekt, aber bisher sind Sie keine Hilfe, sondern lediglich ein Anonymus, der bedeutungsschwangeres Zeug redet, sein Gesicht versteckt und seine Stimme verstellt. Wer garantiert mir, dass ich einen seriösen Informanten vor mir habe und nicht den verkleideten Moderator einer Reality-Quizshow? Unter Ihrem Kapuzenmantel könnten Sie alles Mögliche sein: ein Androide mit Gilgamesch-Syndrom, drei dressierte Affen, die einander auf den Schultern sitzen, oder ein Skelett mit Sense und Sanduhr. Ich habe keine Ahnung." Jerome beugte sich vor, um seinen Worten ein wenig Nachdruck zu verleihen. "Falls Sie mir tatsächlich etwas zu sagen haben, dann hören Sie auf, sich zu verschleiern und in Rätseln zu sprechen", verlangte er. "Ich will wissen, mit wem oder was ich es zu tun habe. Zeigen Sie mir Ihr Gesicht!"
    Aus den Lautsprechern des Fremden drang ein Geräusch, das wie ein tiefes Seufzen klang. "Nun gut, Mr. Cobb. Ich respektiere Ihren Wunsch. Aber werfen Sie mir danach nicht vor, ich hätte Sie nicht gewarnt …"
    In die bisher schlaff herabhängende Kleidung kam Bewegung. Aus dem sich teilenden Mantel wuchs ein Paar hagerer Arme hervor - unmittelbar gefolgt von einem zweiten Paar, dessen Auftauchen Jerome veranlasste, für einen Moment die Luft anzuhalten. Schließlich legte der Fremde vorsichtig die Finger aller vier Hände um den Saum der Kapuze, als hätte er Angst, das Gewebe zu zerreißen, dann streifte er sie langsam zurück.