Kryptobotanik


V - Die Kunst, sich (und die Welt) interessant zu machen



Es ist nicht viel Recherche vonnöten, um herauszufinden, dass die damaligen Herausgeber kryptobotanischer Sensationsstorys entweder nicht zwischen Gruselgeschichten für Pulp-Magazine und wissenschaftlichen Berichten unterscheiden konnten, oder die in fernen Dschungeln aufgespürten Kryptiden außergewöhnlich schnell zum Stoff der Unterhaltungsliteratur wurden.
Purple Horror
Eine weitere Illustration für die Erzählung "The Purple Terror" von Fred M. White, erschienen 1898 im ameri- kanischen Strand Magazine.
Auf einer französischen Website ist zu erfahren, dass der besagte und vielzitierte Brief von Carl Liche über den Man-eating Tree damals in einer Publikation namens Carlsruhe Scientific Journal veröffentlicht wurde, später dann auch von "diversen anderen Zeitungen", deren Namen aber nicht genannt werden. Das besagte Journal hat jedoch - zumindest unter dem angegebenen Namen - nie existiert. Es mag zudem von Bedeutung sein, dass außer auf Internetseiten über Mythen, paranormale Aktivitäten, übersinnliche Phänomene oder gar Außerirdische kaum verlässlichen Informationen über besagten Dr. Carl Liche zu finden sind - ebenso wenig wie über einen Biologen namens Omelius Fredlowski, einen Naturforscher namens Dunstan, einen Missionar namens Parker oder einen Forscher namens Wilson.

Fred M. Whites Erzählung "The Purple Terror", aus der die nebenstehende Illustration stammt, war nur eine von zahllosen "Botanical-Horror-Storys", die zwischen 1881 und 1919 in US-Magazinen abgedruckt wurden und sehr zur Bildung von Legenden über menschenfressende Pflanzen beigetragen haben dürften. Weitere Beispiele wären - nomen est omen - "The man-eating tree" von Phil Robinson (1881), "The flowering of the strange orchid" von HG Wells (1894), "The pavilion" von Edit Nesbith (1915) oder "The sumach" von Ulric Daubeny (1919). Wer des Englischen mächtig ist, kann auf der Hompage von The Orchid House online schmökern. Zu lesen gibt es die Horror-Storys The Purple Terror von Fred M. White und The Flowering of the Strange Orchid von H. G. Wells.

Im Fall des Man-eating Tree auf Madagaskar existiert allerdings ein Gewächs, von dem man annimmt, dass es für Liches Geschichte höchstwahrscheinlich Pate stand. Die Pflanze hinter den Legenden der Mkodo ist demnach eine Artverwandte der sogenannten Titanenwurz (Amorphophallus titanum), eines Aaronstabsgewächses, das neben der Rafflesia eine der größten Blüten der Welt hervorbringt. Die Titanenwurz wächst aus einer unterirdischen, bis 75 Kilogramm schweren Knolle, aus der ein einzelnes, bis sechs Meter hohes und beinahe ebenso breites, mehrfach gefiedertes Blatt austreibt. Es bleibt 9 bis 24 Monate stehen und liefert, bevor es abstirbt, die Nährstoffe für eine neue, größere Knolle. In unregelmäßigen Abständen von mehreren Jahren wächst anstelle eines Laubblattes innerhalb von vier Wochen eine kolossale, bis über drei Meter hohe und anderthalb Meter breite Blüte, die einen penetranten Aasgeruch verströmt. Sie stirbt nach der Befruchtung innerhalb von 30 Tagen ab und verfault, wonach von der Pflanze monatelang nichts mehr zu sehen ist.

Der natürliche Lebensraum der Titanenwurz ist die Insel Sumatra, wo sie aufgrund ihres penetranten Geruches als Aas- oder Leichenblume bezeichnet wird. Allerdings sind einzelne Exemplare dieses riesigen Exoten auch in deutschen Tropenhäusern zu bewundern, so etwa im Botanischen Garten der Stuttgarter Wilhelma, deren Exemplar den Namen "La Diva" trägt, oder in den Botanischen Gärten Bonn. Falls die Titanenwurz blüht, findet sie regelmäßig ihren Weg in die Medien, oft unterstützt durch Webcams, welche die kurze, geruchsintensive Blütezeit der Pflanze live übertragen. Da kann unsereins froh sein, dass die Entwicklung virtueller Gerüche noch in den Kinderschuhen steckt …

Über einen brasilianischen Entdecker namens Mariano de Silva, der in den 1970er Jahren das Grenzgebiet zwischen Brasilien und Guyana bereiste, ist ebenfalls so gut wie nichts zu erfahren. Desgleichen gilt auch für den Indiostamm namens Yatapu. Allerdings lebte einst ein brasilianischer Ingenieur und Abenteurer namens Cândido Mariano de Silva Rondon, der Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts viele ebenso bedeutende wie beschwerliche Reisen durch das Amazonasgebiet unternommen hatte, unter anderem gemeinsam mit dem ehemaligen US-Präsidenten Theodore Roosevelt. Rondon galt bereits zu Lebzeiten als Legende und Nationalheld, starb jedoch bereits 1958, wodurch ein Bericht von einer Expedition in den 1970er-Jahren unmöglich ist. Es sei denn, es existierte oder existiert noch ein zweiter Entdecker namens Mariano de Silva.

Die Geschichte des vermeintlich erst in den 1970er-Jahren entdeckten affenfressenden Baumes im brasilianischen Amazonasdschungel wurde in Wirklichkeit bereits 1939 veröffentlicht. Herausgeber war das Field Museum of Natural History in Chicago. Der Titel der Publikation lautete Carnivorous Plants and "The Man-Eating Tree", die Autorin hieß Sophia Pryor.

Das Field Museum ist ein weltbekanntes Naturkundemuseum, das bereits Kinofilmen wie Das Relikt oder Das Omen II als Kulisse diente und in seiner Anfangszeit regelmäßig sogenannte Leaflets [4] zu seinen vier wissenschaftlichen Hauptbereichen Anthropologie, Zoologie, Geologie und Botanik herausgab. In Leaflet # 23 zum Thema Botanik findet sich auch die Geschichte über den Entdecker Mariano da Silva und seinen "Monkey-Trap Tree". Dies beweist allerdings nur, dass die Berichte über den Entdecker in den 1970er-Jahren falsch sind und der Protagonist offensichtlich doch der bereits 1958 verstorbene Abenteurer Cândido Mariano de Silva Rondon war - oder gewesen sein könnte. Ob der affenfressende Kryptid im Grenzgebiet von Brasilien und Guyana tatsächlich existiert, bleibt offen …

Sea and Land
Cover des 1887 erschienenen Almanachs Sea and Land.
Zum Amerikaner J. W. Buel ist anzumerken, dass er keineswegs Forscher war, wie auf vielen Kryptobotanik-Seiten zu lesen ist, und schon gar nicht der Entdecker des Ya-te-veo, sondern ein umtriebiger, überaus produktiver Autor, Übersetzer und Herausgeber aus St. Louis, Missouri.

Das von Buel herausgegebene Sea and Land, auf das sich die meisten Artikel beziehen, war auch kein Journal oder Wissenschaftsmagazin, wie zumeist behauptet wird, sondern ein 800 Seiten dickes, reich bebildertes Kuriositätenkabinett in Buchform. Ich kann dies bekunden, denn besagte Ausgabe von 1887 steht in meinem Bücherregal, zwischen Don Quichotte und Dantes Göttlicher Komödie. Illustriert ist der herrliche Schmöker mit 300 Zeichnungen, Radierungen und Stichen, auf denen Riesenkraken und Seeschlangen noch die possierlichsten Tierchen darstellen. Oder um es in den Worten des Herausgebers zu sagen: It's an Illustrated History of the Wonderful and Curious Things of Nature Existing Before and Since the Deluge

Wobei ich klarstellen möchte, dass nach meinem Weltbild vor der Sintflut die gleichen "Wonderful an Curious Things" gelebt haben wie danach. Aber auch hier darf natürlich jeder glauben was er will. Einen kleinen Eindruck von immerhin 121 Illustrationen seiner eigenen Sea and Land-Ausgabe von 1889 bietet Steve Lew auf seiner Flickr-Seite, auf die ich daher gerne verlinke - schon allein, um mein Exemplar zu schonen. Steve Lew selbst meint zu seiner Auswahl, er hätte sich beim Einscannen der Bilder vorwiegend auf die Monster konzentriert (org.: "I've focused on the monsters") . Diese tragen dann auch Bildunterschriften wie "The Kraken sinking a ship", "Crab lifting a goat" oder "Monsters of the Kansas Plains in their last struggles" . Immerhin gehört auch der Ya-te-veo (auf Seite 2) zu Steves Auswahl.

Illustrated London News
Kopf der Illustrated London News im Oktober 1844. Quelle: The Illustrated London News.

Auch Andrew Wilson, der vermeintliche "Entdecker" des mexikanischen Schlangenbaums, hat nie einen Fuß auf mexikanischen Boden gesetzt. Während des 19. und frühen 20. Jahrhunderts kamen Berichte über monströse fleischfressende Pflanzen zumeist aus Zentral- und Südamerika sowie Afrika. Einige der interessanteren wurden in den "Science Jottings" (Wissenschaftsnotizen) vorgestellt, einer wöchentlich erscheinenden Kolumne in der englischen Abendzeitung Illustrated London News. Autor der "Science Jottings" war der englische Dozent und Physiologe Andrew Wilson. Für seine Artikel sammelte er sowohl seriöse als auch kuriose Meldungen aus in- und ausländischen Zeitungen, die er schließlich in seiner Kolumne vorstellte. In der London News-Ausgabe vom 27. August 1892 leitete er seine "Science Jottings" mit folgenden Worten ein:

Letztens stieß ich - ich glaube, es war in einer Provinzzeitung - auf die Beschreibung einer sehr eigenartigen Pflanze. Da ein allgemeines Interesse an den fremden und eigenartigen Seiten der Natur herrscht, gebe ich den Bericht hier wieder, wozu auch immer er gut sein mag. Ich habe gelernt, vorsichtig zu sein. Oft genug werden Scherze im ernstesten Tonfall wiedergegeben. Falls sich dieser aber Vorfall wahrhaftig so zugetragen haben sollte, erwarte ich bald mehr über diese wundersame Pflanze zu hören.

Im Folgenden schildert er die Geschichte des Mr. Dunstan und seines Hundes und deren Begegnung mit den Blutreben bzw. der "Devils Trap" in den Sümpfen des Nicaragua-Sees.

Skinner Book
In seinem 1911 erschienenen Buch Myths and Legends of Flowers, Trees, Fruits and Plants [5] erwähnte der amerikanische Folklorist Charles M. Skinner eine ähnliche Horrorpflanze, den mexikanischen Schlangenbaum (orig.: Rattlesnake Bush), der mit seinen Fangarmen Mensch und Tier umschlingt und erdrückt.

Parallelen zur Realität finden sich auch beim Umdhlebi, dem Baum, der jedes sich ihm nähernde Lebewesen vergiftet. Was im ersten Moment reichlich unglaubwürdig klingt, besitzt in der Natur durchaus Äquivalente wie etwa die auf Neuseeland wachsende Ongaonga (Urtica ferox) . Sie ist auch als Nesselbaum bekannt und kann bis zu fünf Meter hoch werden. Schon die leichteste Berührung ihrer Blätter führt zu schweren Vergiftungen und Schmerzen, die Tage oder sogar Monate andauern und mit großflächigen Hautentzündungen verbunden sind. Intensivere Berührungen (z.B. durch Hineintreten in ein Feld junger Stauden) können für Menschen und nicht einheimische Tiere wie Pferde oder Hunde aufgrund des anaphylaktischen Schocks (lebensbedrohliche allergische Reaktion mir Herz-Kreislauf-Versagen) tödlich sein. Die Ongaonga gilt als die am stärksten hautreizende Pflanze der Welt und gehört zweifellos auch zu ihren giftigsten.

Als die giftigste Pflanze zählt ihr riesiger, in Australien heimischer Artverwandter, der womöglich auch als Inspiration für den Umdhlebi diente. Es ist der bis zu 40 Meter hohe Giant Stinging Tree (Riesennesselbaum), von den Australiern Gympie Gympie genannt. Seine toxische Wirkung entspricht der des Ongaonga, nur ist sein Gift wesentlich stärker; so intensiv, dass sogar aus seiner Krone herabtropfender Regen die Haut extrem reizen soll. Und dennoch ist er botanisch gesehen "nur" eine Brennnessel, wenn auch eine riesige und mitunter tödliche. Das Nesselgift dieser Pflanzen ist übrigens nichts anderes als Ameisensäure.

Apropos: Vierzig Meter hohe Brennnesseln, von denen Säure regnet, sind mir immer noch lieber als die bis zu vier Zentimeter großen, überaus aggressiven Bulldoggenameisen, die in ganz Australien heimisch sind. Nicht genug, dass es die größten Ameisen der Welt sind. Ihre Soldaten können zudem unglaublich schnell rennen, bis zu 20 Zentimeter weit springen, für ihre Spezies außergewöhnlich gut sehen und verfolgen ihre Beute mitunter stundenlang. Mal abgesehen davon, dass sich in Australien und in seinen Küstengewässern ansonsten nur die giftigsten Tiere des Planeten tummeln, ist es dort eigentlich recht lauschig. Ein Biologe beschrieb es einmal so: "Die beiden sichersten Plätze in Australien sind der Gipfel des Mount Kosciusko an einem Sommertag - und der Tresor der Nationalbank. Auf dem Mount Kosciusko könnte Sie aber vielleicht immer noch ein Gewitter überraschen …"


Weiter zu Teil 6: Hide and Seek - Ein Resümee

 


[ 4 ]Ein Leaflet ist ein ziehharmonikaartig zusammengefaltetes Einblattprospekt (Leporello). Zurück zum Text

[ 5 ]Skinner starb bereits 1907. Myths and Legends of Flowers, Trees, Fruits and Plants ist eine Sammlung ausgewählter Geschichten aus mehreren seiner Myths and Legends-Bücher. Zurück zum Text