Kryptobotanik


III - Die Menschenfresser


Der Man-eating Tree

Im Jahr 1860 erhielt der (seltsamerweise nur auf Mystik-, Zeitreise- und Kryptobotanik-Internetseiten bekannte) polnische Biologe Omelius Fredlowski als Reaktion auf einen von ihm veröffentlichten Artikel über fleischfressende Großpflanzen in Südafrika einen Brief von seinem deutschen Forscherkollegen Carl Liche. Dieser behauptete, auf seinen Reisen durch Madagaskar an einem Ritual des Mkodo-Stammes teilgenommen zu haben, bei dem eine Frau einer Pflanze geopfert wurde, die von den Ureinwohnern Halavata genannt wurde; Spinnenbaum. Liche beschrieb sie als gut drei Meter hohen, an eine Ananasstaude erinnernden Baum, dessen Wipfel von zwei übereinanderliegenden, schirmartigen Hauben gebildet wurde, von deren Rändern eine klare, sirupartige Substanz tropfte.[3] Zudem besaß sie acht "rankenartige, unter der Haubenkrone wachsende, dornengespickte Blätter von annähernd zwei Mannslängen", die sternförmig angeordnet waren, sowie mehrere je anderthalb Meter lange, dem Stamm entsprießende, sich träge bewegende "Fühler".

Liches Beschreibung legt die Vermutung nahe, dass es sich beim Man-eating Tree womöglich nicht um einen Baum, sondern um eine Art monströsen Pilz gehandelt haben könnte. Vielleicht ist das auch der Grund, weshalb dieser "Baum" bei keiner der nachfolgenden Forschungsreisen wiedergefunden wurde. Das oberirdische Gebilde "Pilz" entsteht, wie es Fachbücher lehren, um Sporen zu erzeugen und nach der Reifung zu verbreiten. Diese primäre Funktion bestimmt die Form des Fruchtkörpers und seine Konstruktion. Hat er diese Funktion erfüllt, stirbt er in der Regel rasch wieder ab, um ein Jahr später - an selber Stelle über dem Myzel, dem eigentlichen, im Boden verborgenen Pilzgeflecht - wieder zu wachsen.

Man-eating Tree
Der Man-eating Tree.  Illustration aus The American Weekly zum Liche-Interview von 1920. Oben im Baum das unglückliche Opfer.
In Liches Madagaskar-Bericht wurde die Mkodo-Frau angewiesen, den Stamm der Halavata hinaufzuklettern. Oben angekommen, wich sie geschickt den sich bewegenden weißen Fühlern aus und trank von der sirupartigen Flüssigkeit. Als sie, berauscht davon, vom Baum springen wollte, berührte sie einen der umhertastenden Fühler …

In einem Interview, erschienen im September 1920 in der Zeitschrift The American Weekly, beschreibt Liche das folgende Geschehen: "In den noch vor Augenblicken bewegungslosen Baum kam Leben. Die zerbrechlich wirkenden Stiele packten das Opfer, Befreiungsversuche waren hoffnungslos. Die Äste begannen sich zu krümmen, die großen Blätter senkten sich langsam, ihre Dornen bohrten sich in das Mädchen. Vom Stamm lief eine rote Flüssigkeit - der berauschende Pflanzensaft, vermischt mit dem Blut des Opfers. Jeder Eingeborene versuchte daraufhin, einen Mundvoll davon zu erwischen."

Liche beobachtete die Pflanze daraufhin die folgenden neun Tage lang, ohne dass etwas geschah. Als er am zehnten Tag erneut zum Baum kam, war er offen und seine Blätter und Ranken wuchsen wieder normal. Auch die weißen Fühler tanzten im Wind. Lediglich einige Knochen am Fuß des Stammes erinnerten noch an das Opferritual.

1881 wurde erstmals eine Zeitung auf die menschenfressende Pflanze in Madagaskar aufmerksam - das australische Magazin South Australian Register. Erst 1920 erschien die Geschichte im US-Blatt The American Weekly. Ein halbes Jahrhundert nach Liches Bericht reisten schließlich unabhängig voneinander mehrere amerikanische Forscher und Hobby-Botaniker nach Madagaskar, um sich auf die Suche nach dem sagenhaften Man-eating Tree zu begeben. Alle Forschungsreisen verliefen jedoch erfolglos. Außer Augenzeugenberichten gibt es bis heute keinen wissenschaftlichen Beweis für die Existenz dieses Baumes. Sehr wahrscheinlich ist daher, dass Carl Liche niemals Augenzeuge des von ihm beschriebenen Opferrituals wurde, sondern Legenden der Ureinwohner aufgriff und diese für die Leser im fernen Europa fantasievoll-dramatisch ausschmückte.


Der Ya-te-veo

Ya-te-veo
Der Ya-te-veo.  Aus Buels Sea and Land von 1887.
Eine weitere menschenfressende Pflanze, die dem Baum von Madagaskar ähnelt, soll im südlichen Mittelamerika wachsen. Ihr angeblicher "Entdecker", der Journalist James William Buel, gab ihr den spanischen Namen Ya-te-veo, was übersetzt soviel wie "Ich kann dich sehen" bedeutet. Wie der Man-eating Tree hat auch der Ya-te-veo seinen Ursprung in den Legenden der ansässigen Ureinwohner.

In der 1887 erschienenen Ausgabe des Almanachs Sea and Land beschreibt Buel sie als kurzen, dicken Baumstamm mit langen, stachelförmigen Ästen, die von schwertartigen Dornen gesäumt seien. Die Äste würden bis zum Boden herabhängen und völlig leblos wirken, bis ein nichtsahnender Wanderer zwischen ihnen hindurch schritt und sich dem Stamm näherte. "Ohne Vorwarnung", so Buel, "schießen sie daraufhin in die Höhe und winden sich um ihr Opfer. Dann pressen sie es gegen den Stamm und spießen es mit ihren langen Dornen auf. Sie drücken den Unglücklichen so lange, bis jegliches Blut aus seinem Körper gewichen ist und von der Rinde des Baumes aufgesogen wurde."


Der Umdhlebi-Baum

Im November 1882 berichtete der amerikanische Missionar G.W. Parker über einen Baum, der von den in Südafrika lebenden Zulu Umdhlebi genannt wurde und in dem Antaris auf Java verblüffend ähnelte. Der Geistliche entdeckte ihn während seiner laufenden Missionarstätigkeit im damaligen Königreich Zululand, einem Zulustaat im Norden der heutigen Provinz KwaZulu-Natal, dessen Existenz 1879 mit der Niederlage der Zulu gegen die Briten endete. Parker beschrieb den Baum als grotesk aussehendes Gewächs, mit dunkelgrünen Blättern, die spitz zuliefen und "von brüchiger Struktur" waren. An seinen Ästen befanden sich schwarze, längliche Fruchtknoten, die eine blutrote, speerartige Spitze besaßen. Selbst die Rinde des Umdhlebi sei brüchig gewesen und hätte "in großen Stücken herabgehangen".

Bemerkenswert ist die Tatsache, dass der Umdhlebi offenbar in der Lage war, Lebewesen, die ihm zu nahe kamen, zu vergiften. Die Opfer bekämen zuerst blutunterlaufene Augen, dann starke Kopfschmerzen und fielen schließlich in ein Delirium, dem stets der Tod folgte. Der Missionar behauptete, dass die Zulu dem Baum daher regelmäßig Ziegen und Schafe opferten, um die bösen Geister in seinem Inneren zu besänftigen.

Laut Parker sammelten die Eingeborenen trotz der Gefahr die zu Boden gefallenen Früchte des Umdhlebi, da sie überzeugt waren, in ihnen das einzige Gegenmittel gegen die "dämonischen Kräfte" des Baumes zu finden. Dabei waren jedoch immer wieder Opfer zu beklagen, denn jeder, der sich dem Umdhlebi nicht von der Windseite her näherte, starb. Der Missionar zog daraus die Schlussfolgerung, dass der Baum giftige Pollen oder ein tödliches Gas absondere und mit hoher Wahrscheinlichkeit von den verfaulenden Überresten seiner Opfer lebe, deren Leichenflüssigkeit langsam im Boden versickere.


Die Blutreben

Devil's Trap
Diese sowohl vom Ya-to-veo-Baum als auch von der Devil's Trap inspirierte Illustration erschien zusammen mit der Erzählung "The Purple Terror" von Fred
M. White 1898 im Strand Magazine.
Im August 1892 las man in der Illustrated London News von einer blutsaugenden Schlingpflanze in Nicaragua. Ein Naturforscher namens Dunstan, der in den Sümpfen um den Lago Cocibolca auf Pflanzensuche war, vernahm demzufolge plötzlich das laute Jaulen seines Hundes. Als er ihm zu Hilfe eilte, sah er bestürzt, dass das aus zahlreichen Wunden blutende Tier in einem Netz seilähnlicher Wurzeln und Fasern gefangen war. Dunstans Worten zufolge befand es sich "in der Umklammerung dreier ölig aussehender, blattloser Ranken, die mit zahllosen winzigen Haken und Dornen gespickt waren und eine dicke, klebrige, süßlich riechende Substanz absonderten, die an Baumharz erinnerte."

Nur mit äußerster Mühe gelang es Dunstan, die stark haftenden Ranken mit einem Messer zu zerschneiden, um seinen Hund zu befreien. Dort, wo die "fleischigen Muskelfasern der Pflanze" seine Haut berührten, hinterließen sie diese gerötet und blasenübersät. Bei einer Untersuchung des Hundes erkannte er schließlich, dass sich auf dessen Haut dunkle Flecken gebildet hatten, an denen die Pflanze anscheinend die Haut durchbohrt hatte, um an sein Blut zu gelangen. Nach ein paar Tagen waren die Wunden wieder verheilt.

Den Miskito-Indianern war die Pflanze wohlbekannt. Sie hatten ihr einen Namen gegeben, den Dunstan als "Devil's Trap", Teufelsfalle, übersetzte. Laut den Miskito konnte sie ein Tier von der Größe eines Hundes in nicht mehr als fünf Minuten komplett aussaugen.


Der Snake-Tree

Im Jahr 1892 berichtete ein englischer Forscher namens Andrew Wilson von einer Pflanze in der Sierra Madre in Mexiko, welche von den Einheimischen Snake Tree genannt wurde; Schlangenbaum. Sie besaß bewegliche, reizempfindliche Zweige, die "schleimig und schlangenähnlich" aussahen und einen Vogel, der unachtsam auf ihnen gelandet war, nach unten zogen, bis er nicht mehr zu sehen war. Irgendwann fiel der Vogel schließlich zerquetscht auf den mit Knochen und Federn bedeckten Boden; zweifellos die Überreste vorheriger Opfer.

Als Wilson nach der Ranke griff, schloss diese sich laut Bericht sofort um seine Hand, und zwar mit solcher Kraft, dass es ihm "die Haut abzog", als er seine Hand zurückriss. Nach diesem Vorfall fütterte Wilson den Baum mit Hühnern. Die Pflanze absorbierte ihr Blut über Saugnäpfe, welche die Zweige bedeckten und denen von Oktopoden glichen.


La plata vampiresa und der blutrünstige Rest …

Devil Tree
Titelcover der 2001 erschienenen Neu- auflage zu Frank Aubreys Roman The
Devil-Tree of El Dorado
von 1897.
Im Jahr 1933 berichtete der französische Entdecker und Autor Byron Khun de Prorok von einer auffällig großen fleischfressenden Pflanze im südmexikanischen Urwaldgebiet von Chiapas, die einen Vogel tötete, indem sie das Blatt, auf dem er saß, plötzlich schloss und das Tier mit ihren Dornen durchdrang. Der mexikanische Führer der Expedition nannte diese tödliche Spezies La plata vampiresa (Vampirpflanze). Möglicherweise handelt es sich um die gleiche karnivore Art, die der Engländer Wilson vierzig Jahre zuvor in der Sierra Madre gesehen haben will.

Eine weitere menschenfressende Pflanze soll auf der philipinischen Insel Mindanao wachsen. 1925 berichtet The American Weekly, das gleiche Magazin, das fünf Jahre zuvor auch über die menschenfressende Pflanze in Madagaskar geschrieben hatte, von der Pflanze auf Mindanao. Leider war es nicht möglich herauszufinden, worum es sich bei dieser Pflanze handelte.

Ein weiteres Mysterium ist der Me'Toh-Baum. Obwohl dieser Name im Zusammenhang mit fast allen Kryptobotanik-Berichten fällt, ist über ihn nichts Genaues zu erfahren.

In den 1970er Jahren schließlich schilderte der brasilianische Entdecker Mariano da Silva laut einschlägiger Quellen seine Begegnung mit einer fleischfressenden Pflanze im Grenzgebiet von Brasilien und Guyana. Da Silva befand sich auf der Suche nach einem Dorf der Yatapu-Indianer, in deren Legenden die Pflanze ebenfalls auftaucht. Ihr sehr intensiver Duft lockte vorwiegend Affen an, die ihren Stamm emporklettern und daraufhin von ihren Blättern vollkommen eingehüllt wurden. Danach sei von den Tieren nichts mehr zu sehen oder zu hören gewesen. Nach etwa drei Tagen, so da Silva, öffneten sich die Blätter schließlich wieder und ließen die blanken Knochen des Opfers zu Boden fallen.


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[ 3 ]Eine andere Quelle beschreibt die Baumkrone als "übereinanderliegende, konkave Platten", in denen sich die Substanz wie in einem Tümpel sammelte. Zurück zum Text