Kryptobotanik


II - Mittelalterliche Mythen und Legenden




Der Bernikel-Baum

Eine der wunderlichsten botanischen Mythen erzählt von einem Baum, an dem große, muschelförmige Früchte wachsen, aus denen schließlich Gänse schlüpfen; dem Bernikel-Baum (orig.: Barnacle Tree). Im Englischen bedeutet Barnacle Entenmuschel oder auch Ringelgans, weshalb der Baum im deutschen Sprachraum auch Gänse- oder Muschelbaum genannt wird.[1] Laut Überlieferung gedeiht er in wildwüchsigen Gegenden wie etwa auf den Shetland-Inseln, im Süden Tasmaniens, in einigen Gebieten Neuseelands und im Norden von Norwegen. Er trägt straußeneigroße Früchte, die wie alle Früchte anfangs grün und bitter sind. Der Legende nach ist es jedoch nicht möglich, reife Früchte zu ernten, da sie unreif bleiben, solange sich Menschen in der Nähe des Baumes aufhalten. Sobald es dunkel wird, reifen sie und fallen hinab ins Wasser, wo sie sich sofort öffnen und Baumgänseküken freigeben.

Barnacle Tree
Der Bernikel-Baum.  Illustrationen aus John Gerards The Herball or Generall Historie of Plantes aus dem Jahr 1597 (rechts) und aus Sebastian Münsters Cosmographia aus dem Jahr 1550 (links). Quelle: Projekt Gutenberg.
Die frühesten Geschichten über den Bernikel-Baum reichen zurück bis ins 11. Jahrhundert. Damals will der walisische Mönch Giraldus Cambrensis (Gerald de Barri) auf einer seiner Reisen gesehen haben, wie sich aus Entenmuscheln Nonnengänse entwickelten. Im 16. Jahrhundert adaptierte der Botaniker und Ornithologe William Turner die Ansichten seines englischen Kollegen John Gerard und gab dem Mythos so neue Nahrung. Gerard schrieb in seinem 1597 erschienenen Pflanzenverzeichnis The Herball or Generall Historie of Plantes: "In Lancashire [2] erhebt sich ein kleines Eiland, genannt "The Pile of Foulders". Aus der Gischt des Ufers wächst ein Baum, dessen Zweige weiße Muscheln tragen. Diese wachsen rasch und vorwiegend bei Nacht, bis sie schließlich aufplatzen, woraufhin die Füße von Entenvögeln aus ihnen herausragen. Die Vögel hängen darin an ihren Schnäbeln, bis sie voll entwickelt wären, um schließlich nackt hinab ins Wasser zu fallen. Dort bekommen sie Federn und wachsen rasch zu einem ausgewachsenen Tier heran, das größer ist eine Ente, aber kleiner als eine Gans."

Obwohl der angesehene Theologe und Naturwissenschaftler Albertus Magnus die Legende bereits im 13. Jahrhundert als Irrglauben abgetan hatte, waren die Geschichten über den Bernikel-Baum bei Pflanzenkundlern bis ins 18. Jahrhundert beliebt.


Das Skythische Lamm

Eine weitere sehr bizarre Mischform aus Pflanze und Tier bildet das Skythische Lamm, auch Pflanzenlamm oder Baumlamm genannt. Im Englischen heißt dieses mythologische Fabelwesen "The Vegetable Lamb of Tartary", im Lateinischen Agnus scythicus oder Planta Tartarica Barometz.

Der Name Barometz (oder auch Borametz) taucht auch in dem 1668 erschienenen Schelmenroman "Der Abenteuerliche Simplicissimus Teutsch" aus der Feder von Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen auf. In Kapitel 22 des 5. Buches heißt es: Als ich aber im besten Tun war und mich außerhalb der Festung über Nacht in einer Pulvermühl befand, wurde ich von einer Schar Tatarn diebischerweis gestohlen und ausgehoben, welche mich samt andern mehr so weit in ihr Land hineinführten, daß ich auch das Schafgewächs Borametz nicht allein wachsen sehen konnte, sondern auch davon essen durfte.

Vegetable Lamb
Das Skythische Lamm.  Verschiedene mittelalterliche Darstellungen des Barometz (v.r.n.l.): nach Joannes Zahn, in Specula physico, 1696, nach Demetrius De la Croix, in Connubia Florum, 1791, nach Jehan de Mandeville, in Voyages des merveilles du monde, 1499, und nach Claude Duret, in Histoire admirable des plantes, 1605. Quelle: Projekt Gutenberg.

Das Skythische Lamm lebt bzw. wächst im Land der Skythen und Tataren, einem Gebiet, das sich über Südrussland, Kasachstan und die Ukraine bis in die Mongolei und Ostsibirien erstreckt. Der Baumstamm, an dem das Borametz angewachsen ist, ist laut der Legende sehr biegsam, damit das Lamm hin und her pendeln kann, um an die umliegenden Gräser zu kommen. Ist die Umgebung um den Baumstamm kahl gefressen, muss das Tier verhungern. Neben dem Hungertod hat das Skythische Lamm zudem den Menschen zu fürchten, da dieser sein prachtvolles goldenes Fell sowie sein magisches Blut begehrt.

Es gibt in realer Natur eine Pflanze, die an das Baumlamm erinnert und deren lateinischer Name dem aus Grimmelshausens "Simplicissimus" entspricht: das Polypodium (Aspidium Baromez), besser bekannt als Baumfarn. Bereits im Mittelalter handelten die Menschen, denen seine blutstillende Wirkung bekannt war, mit seinen behaarten Wurzelstöcken, den sogenannten Tartarensträuchern (Frutex tartareus) . Diese wurden mit Hilfe einiger ansitzender, trockner, holziger Wedelstiele in die Gestalt eines Tiers gebracht, welches als Baranetz oder Agnus scythicus zugleich allerlei abergläubischen Zwecken diente. Nach einer Sage aus dem 14. Jahrhundert ist das Baranetz oder Pflanzenschaf ein kleines Lamm, das aus einer jenseits des Kaspischen Meeres wachsenden Melone hervorgeht. Nach einer jüngern Sage, die sich mit der Legende um das Skythische Lamm deckt, ist es eine Pflanze, die als Frucht ein Lamm hervorbringt, welches an einem langen Stiel befestigt ist, die ringsum wachsenden Kräuter abweidet und dann abstirbt (Meyers Konversations-Lexikon, 1885-1892).


Der Bernsteinbaum

Amber Fish
The Amber Fish.  Illustration aus
dem Hortus Sanitatis von 1491.
Quelle: Projekt Gutenberg.
Amber Tree
The Amber Tree. Illustration aus dem Hortus Sanitatis von 1491.
Quelle: Projekt Gutenberg.
Unser heutiges Wissen über Bernstein und dessen Herkunft war den meisten Menschen der Antike unbekannt. Sie verehrten das fossile Harz als magisches Element und trugen gefundene Exemplare als Talismane bei sich. Da Bernstein fast nur an Meeresküsten, an den Ufern großer Flüsse oder in alten Seebetten gefunden wurde, hielt man ihn für das Produkt eines geheimnisvollen Fisches, der folgerichtig Amberfish genannt wurde; Bernsteinfisch. Andere glaubten, es handle sich um kristallisierten Meeresschaum. Nur die wenigsten vermuteten, dass es Harz war und von geheimnisvollen Meeresbäumen stammen könnte.

Erstmals "wissenschaftlich" beurkundet wurde der Bernsteinbaum Ende des 15. Jahrhunderts im Hortus sanitatis (dt.: Garten der Gesundheit). Die Enzyklopädie gilt heute mit ihren über 1000 Illustrationen als eines der schönstenHolzschnittbücher seiner Zeit und als das wichtigste naturhistorische Werk des Mittelalters. Ihre erste Auflage wurde im Jahre 1491 von Jacob Meydenbach in Mainz gedruckt. Der Hortus sanitatis ist jedoch mehr als nur ein Kräuter- und Medizinbuch, denn er behandelt auch verschiedene Gattungen von Tieren und Mineralien.

Als Jacob Meydenbach den Künstler, der die Holzschnitte für den Hortus Sanitatis anfertigte, anwies, Bernstein zu illustrieren, war dieser clever genug, alle existierenden Legenden zu komponieren. So stellte er einen Bernsteinbaum dar, der inmitten eines schäumenden Ozeans aus den Wellen wächst und von einem Bernsteinfisch umkreist wird.


Der Ipoh-Baum

Ipoh Baum
Der Ipoh-Baum.  Illustration aus
dem Hortus Sanitatis von 1491.
Quelle: Projekt Gutenberg.
Der auf der indonesischen Insel Java beheimatete Antjaris- oder Ipohbaum (Antiaris toxicaria) trägt bei den Einheimischen den Namen Bohun Upas. Auf Java bedeuten die Begriffe upas und ipoh soviel wie ›Gift‹. Der Antjaris gehört zu den Feigenbäumen und besitzt einen zwanzig bis dreißig Meter hohen, geraden Stamm. Erst ab dieser Höhe sprießt die ausladende Baumkrone. Trotz seiner Schönheit besaß er auf den Sunda-Inseln den Ruf eines Todesbaumes. Die ersten europäischen Seefahrer, die den Archipel besuchten, griffen die Geschichten und Legenden der Ureinwohner auf. Zurück in der Heimat, erzählten sie, der Upas wäre so gefährlich, dass im Umkreis von dreißig Kilometern kein Vogel in seiner giftgeschwängerten Luft fliegen könne. Weder Mensch noch Tier würden sich dem Baum zu Fuß nähern können, ohne den Tod zu erleiden. Zu allem Unglück war das Gift geruchlos, so dass ein Mensch die Nähe eines Upas-Baumes meist erst bemerkte, wenn er die verstreuten Gebeine toter Menschen und Tiere sah und es zu spät war.

Als im Laufe des 16. Jahrhunderts die Holländer die Sunda-InseIn kolonisierten, nahmen die "bösen Kräfte" des Ipoh auf wundersame Weise ab. Anfang des 17. Jahrhunderts konnten sich die Ureinwohner Javas einem Upas-Baum bereits aufrecht nähern. An seine frühere Macht erinnerte bald nur noch der giftige Baumsaft, den die Eingeborenen zum Präparieren ihrer Pfeile verwendeten.


Die Pflanze des PaŽi Shume

Im 17. Jahrhundert trieb der Orden der Jesuiten in Süd- und Zentralamerika einen schwunghaften Handel mit Mate, einem Stechpalmengewächs, aus dem ein belebender Tee, der "Trank der Götter", gewonnen wurde. Der Sage nach wurde den Ureinwohnern die Pflanze und das Rezept für die Zubereitung von einem Gott namens PaŽi Shume überreicht. Für die Matepflücker auf den Plantagen, die ausschließlich aus Sklaven bestanden, verwandelte sich die Yerba-Mate im 17. Jahrhundert in eine Pflanze, die sich von Menschenschweiß und Menschenblut ernährte. Die Sklaven hielten ihr Leid über ihr Dasein auf den Plantagen in Liedern, Erzählungen und Romanen fest, aus denen einige der Legenden über menschenfressende Pflanzen entstanden.


Weiter zu Teil 3: Die Menschenfresser
 


[ 1 ]Entenmuscheln (Percebes) sind keine wirklichen Muscheln, sondern wie auch die Seepocken Krebstiere aus der Klasse der Rankenfußkrebse. Sie leben in der Brandungszone von Felsküsten. Zurück zum Text

[ 2 ]Lancashire ist eine Grafschaft an der Nordwestküste von Wales. Zurück zum Text