DAS AION - Kinder der Sonne
Leseprobe 2

Aion Panorama

            Alles, was ihr Menschen heute liebt und bewundert,
            vermag sich morgen schon aufzulösen
            in einem sanften Hauch kosmischer Glut.

            Helios, Sohn des Hyperion



1  ·  Beute


Die Echse saß auf dem Scheitel der Düne.
    Ihr Kopf zuckte auf und ab, als würde sie einer in der Ferne sitzenden Artgenossin zunicken. Dabei hob sie mal das rechte Hinterbein und das linke Vorderbein, dann wieder das rechte Vorderbein und das linke Hinterbein, um die Gliedmaßen nicht zu lange dem heißen Wüstensand auszusetzen. Sie verhielt sich beinahe wie eine richtige Echse, und Mira kam es so vor, als würden die Tiere Tag für Tag etwas dazulernen und ihre Fluchtinstinkte schärfen. Während der vergangenen Stunde, in der sie die Dornschwanzagame verfolgt hatte, hatte sie oft gezweifelt, ob sie diesmal nicht auf einer falschen Fährte war. Doch jetzt, als die Echse auf der höchsten Stelle der Düne saß und ihre Blicke über die Wüste gleiten ließ, waren Miras Bedenken wie ausgelöscht. In ihren Augen glühte das Feuer einer Jägerin.
    Die Agame drehte ihren Kopf ruckartig, Millimeter für Millimeter. Jedes Mal, wenn sie innehielt, leuchteten ihre kleinen Augen in der Abenddämmerung für einen Sekundenbruchteil auf wie die Blitzlichter einer Kamera. Als das Tier seinen Kopf abwandte, sprang Mira blitzschnell aus ihrer Deckung, spannte die Schleuder und jagte das Geschoss mit vernichtender Präzision ins Ziel.
    Der pflaumengroße Stein traf die Echse mit voller Wucht, ehe diese Anstalten machen konnte zu flüchten. Von dem Stein mitgerissen, verschwand das Tier als zappelndes Etwas hinter der Düne. In der Befürchtung, ihre Beute zu verlieren, rannte Mira, so schnell es der nachgiebige Sand erlaubte, zu der Stelle, an der die Echse gesessen hatte. Der Hang auf der anderen Seite der Düne lag im Schatten der untergehenden Sonne, doch Miras Augen durchdrangen das Dunkel mühelos. Auf halber Höhe der Düne nahm sie eine Bewegung wahr und rutschte flink darauf zu. Bevor die Agame es schaffte, sich im lockeren Sand zu vergraben, hatte Mira sie gepackt und hielt den sich windenden Körper fest umschlossen. Dann kletterte sie auf den Dünenkamm zurück und betrachtete ihre Beute im Sonnenlicht.
    Die Echse bewegte sich träge, wobei sie ständig dieselben Bewegungen wiederholte. Es war ein fließendes Vor- und Zurücksetzen der Beine, fast so, als würde sie weiterhin über den Boden laufen, während ihre Augen unaufhörlich aufleuchteten und wieder erloschen. Ihr Leib und der dicke, mit Stachelschuppen besetzte Schwanz leuchteten in grellem Gelb, um möglichst viel Sonnenlicht zu reflektieren, wogegen der Kopf und die Beine der Agame pechschwarz gefärbt waren. Während Mira das Reptil begutachtete, zuckte dessen Kopf plötzlich herum und starrte sie an, wobei das Blitzen in seinen Pupillen für Sekunden intensiver wurde.
    Erschrocken ließ Mira die Echse fallen und sprang einen Schritt zurück. Aus einem Reflex heraus fischte sie einen weiteren Stein aus ihrer Manteltasche, legte ihn in die Schleuder, zielte auf den Kopf des Reptils und schoss. Der Kiesel stampfte den Vorderkörper der Echse mit einem dumpfen Schlag in den Sand. Nur ihr Hinterleib - zwei zuckende Beine und der lange dünne Schwanz - ragten noch hervor. Schließlich erlahmten die Bewegungen und die Echse rührte sich nicht mehr.
    Mira wartete gespannt. Dann ließ sie sich auf die Knie nieder und kroch zögernd zu dem kopfüber im Boden steckenden Reptil. Erst als sie überzeugt war, dass es sich nicht mehr rühren würde, zog sie es am Schwanz aus dem Sand, um es zu begutachten.
    Der Kopf der Echse war beschädigt und wirkte unnatürlich platt. Zudem war sie an einer Seite fast komplett aufgerissen. Das rechte Vorderbein stand in verdrehtem Winkel ab, das Maul war halb geöffnet und das rechte Auge aufgeplatzt. Allerdings trat kein Blut aus den Wunden. Durch den Riss schimmerte Metall unter der Reptilienhaut hervor. Haarfeine, bunte Kabel durchzogen den gesamten Echsenleib, liefen am Halsansatz zusammen und mündeten im Schädel. Aus dem zerstörten Auge rieselten Glassplitter, und das klaffende Loch im Kopf der Agame ermöglichte einen Blick auf eine Vorrichtung, die der Blende einer winzigen Kamera ähnelte.
    Abgesehen von dem verdrehten Beingelenk schien die Mechanik der Echse unversehrt zu sein, stellte Mira fest. Aber die Elektronik war mit Sicherheit hinüber. Das Mädchen schürzte die Lippen. Dieses Exemplar machte rein optisch nicht mehr viel her, aber immerhin war es das größte, das sie in den vergangenen Tagen erlegt hatte. Alle anderen Echsen waren wesentlich kleiner und bereits nach dem ersten Treffer mit der Schleuder außer Gefecht gewesen.
    Miras Vater hatte vor Tagen eines der Tiere ins Carinea- Institut geschickt. Er war der Ansicht, dass es dort einige Leute bestimmt interessieren würde, was neuerdings so alles in der Beta-Zone herumkroch.
    Mira wickelte das Reptil in ein Tuch und verstaute es in ihrem Beutel. Eine Weile blieb sie noch auf dem Dünenkamm sitzen und betrachtete die tief stehende Sonne. Ihr Vater hatte ihr ausdrücklich verboten zu jagen, nachdem er gestern Mittag eine Nachricht aus dem Institut erhalten hatte. Dabei war seine Stimme streng und zugleich sorgenvoll gewesen. Mira hatte seine Anordnung wieder einmal ignoriert. Das bedeutete wohl, dass es heute Abend Ärger geben würde. Natürlich konnte Mira ihre Beute über Nacht verstecken und erst morgen vor Eröffnung des Marktes abholen. Dann allerdings würde sie wegen der schlechten Qualität ihrer Ware weniger Geld bekommen. Der nächtliche Frost und der Morgentau taten der Elektronik der Kreaturen nicht gut.
    Nachdenklich wischte Mira den Sand vor sich glatt. Dann öffnete sie ihren Lederbeutel und kippte die gesamte Tagesbeute vor sich auf den Boden: zwei Schlangen, ein Skorpion und die Echse. Viel war das nicht. Es gab Tage, da erlegte Mira mehr als das Doppelte. Sogar ein junges Quokka hatte sie jüngst abgeschossen.
    Eine der Schlangen hatte einen unschönen Knick. Wahrscheinlich waren ihre Metallgelenke durch den Treffer mit der Schleuder in Mitleidenschaft gezogen worden. Der Skorpion war am meisten lädiert. Eine seiner Zangen stand in unmöglicher Verrenkung vom Körper ab, die andere war abgebrochen und lag daneben. Von seinen sechs Beinen fehlten zwei, und der Giftschwanz hatte eine aufgeschossene Stelle, durch die das Mädchen die rote und weiße Kabelinstallation erkennen konnte. Falls Mira ihn morgen ebenfalls auf dem Markt verkaufen wollte, stand ihr eine lange Nacht bevor, um ihn zu reparieren.
    Sie verstaute die mechanischen Tiere wieder in ihrem Beutel. Dann erhob sie sich, warf ihren Ledersack schwungvoll auf den Rücken und machte sich auf den Nachhauseweg.


Mira lief zügig, denn sie musste vor Sonnenuntergang zurück im Dorf sein. Eine Weile wanderte sie durch ein ausgetrocknetes Flussbett, durch das nach jedem Gewitterregen eine reißende, sandig gelbe Wasserflut strömte. Zu beiden Seiten des Wadis ragten die Dünen fast zweihundert Meter hoch auf, gewaltige Sandwogen mit steilen Kämmen. Über einen Hunderte von Metern langen, sanft ansteigenden Hang erklomm Mira den Dünenkamm zu ihrer Linken, sah sich kurz um und beschleunigte dann ihre Schritte, da die Sonne sich bereits dem Horizont näherte. Die Luvhänge - die dem Wind ausgesetzten Dünenseiten - waren relativ trittfest. Die Leehänge dagegen, jene steilen, im Windschatten liegenden Dünenseiten, waren bodenlos weich und die weiten, oft mit Treibsand bedeckten Täler zwischen den Dünen tückisch.
    Im Slalom lief Mira durch das Dünenlabyrinth, dessen große, lang gestreckte Täler von Querdünen durchbrochen waren. Hier und dort lagen vom Wind geschaffene Strudellöcher auf ihrem Weg. Es waren fünf bis zehn Meter tiefe Trichter, an deren Grund sich nicht selten Sodras eingegraben hatten; mannsgroße Insekten, die erst bei Anbruch der Nacht unter dem Sand zu wandern begannen. Die Sonne hielt die Sodras aber nicht davon ab, auch bei Tag ein versehentlich in den Trichter gerutschtes Lebewesen zu sich in den Sand hinabzuziehen.
    Mit angehaltenem Atem schlich Mira an einem der Löcher vorbei. Sein Rand war übersät mit halb im Sand vergrabenen Rippenknochen und dem Schädel eines unglücklichen Tieres. Solange die Sonne nicht gerade im Zenit stand, lag der Grund der Strudellöcher im Schatten. Die Augen von der grellen Sonne geblendet, erkannte man daher nicht sofort, wie tief die Senken waren und was sich auf ihrem Grund verbarg. Rutschte man in einen der Trichter hinein, gab es kaum noch ein Halten, ehe man nicht den Grund erreicht hatte. Sah man dann vor seinen Augen die Spitzen der fast einen Meter langen Sodra-Fangzangen aus dem Sand ragen, war es meistens schon zu spät.
    Wind kam auf und brachte die Hänge der Dünen zum Fließen. In einer Sandlawine glitt Mira einen steilen Leehang hinab in den Schatten einer tiefen Senke, dann den nächsten Hang wieder hinauf. Sie schwitzte, obwohl es bereits sehr kühl geworden war. Endlich, hinter dem Grat der letzten gewaltigen Sandwoge, sah sie das Dorf.
    Minutenlang blieb Mira auf dem Dünenkamm sitzen. Mehr als zweihundert Meter unter ihr lag eine Ebene, die sich bis zum Horizont erstreckte. Sie war bedeckt von Sand und Geröll, ohne eine natürliche Erhebung. Das Dorf glich von hier oben einem riesigen Häuserrad. Seine Speichen wurden von acht schnurgeraden Straßen gebildet, die von den mit Akazien, Dattelpalmen und Tamarisken bewachsenen Randbezirken der Siedlung zum Dorfplatz im Zentrum führten. Überragt wurden die Häuser lediglich von dem gedrungenen Turm des Bethauses und den zwölf über das Dorfareal verteilten Flutlichtmasten.
    Jenseits der Siedlung erstreckten sich Plantagen mit geometrisch angelegten Feldern, die riesige grüne Kreise bildeten. Dort bauten die Dorf bewohner Getreide und Luzerne für das Vieh an. Das nötige Wasser wurde von Motorpumpen aus tiefen Brunnen herauf befördert und in kilometerlange Sprinkleranlagen geleitet. Inmitten der Plantagen erhob sich eine gewaltige Ruine, die aussah wie eine zerborstene Steinkuppel. Mira erinnerte sich an eine Zeit, als die Kuppel noch intakt und das Gebäude Teil der Plantagen gewesen war. Der Anblick der Ruine weckte bei ihr jedes Mal böse Erinnerungen, die sie oft bis tief in die Nacht hinein verfolgten.
    Zwischen den Plantagen und dem Dorf erhob sich ein vierzig Meter hoher Sendemast, über den die Siedler mit dem Carinea-Institut oder den Oasen von Akréré oder Quaram in Verbindung standen.
    In unmittelbarer Nähe des Dorfes lag ein fast quadratisch angelegtes Areal. Es war wesentlich kleiner als die Getreidefelder, und vom Kamm der Düne aus betrachtet wirkte es im Licht der Abendsonne wie ein bizarrer Kakteenwald. Doch wenn man genau hinsah, erkannte man, dass es Steinplatten und Holzkreuze waren. Das Feld jenseits der Siedlung war der Friedhof. Es gab dort fast mehr Gräber, als Menschen im Dorf lebten …
    Mira fröstelte. Die ersten Hausfenster waren bereits erhellt und entlang der Straßen brannten Laternen. Der Wind war heftiger geworden, blies aus dem Sand unter Mira eine Mulde aus und ließ ihren Körper langsam tiefer sinken. Würde sie hier oben sitzen bleiben, hätte die Düne sie bis Sonnenaufgang verschluckt, wie alles, was sich nicht mehr bewegen kann. Wer in der Wüste weiterkommen will, muss ständig auf der Flucht sein, um nicht lebendig begraben zu werden.