DAS AION - Kinder der Sonne
Leseprobe 3

Aion Panorama


(Fortsetzung von Kapitel 1  ·  Beute)


Einhundert Meter vor dem Dorf wurde Mira von schallendem Hundegebell empfangen. Aus dem Schatten der Akazien, die den Rand der Siedlung vor dem ärgsten Wind schützten, schnellten zwei braunschwarze Körper hervor. Die Hunde rannten auf das Mädchen zu und umkreisten es lärmend, während ihre Schwänze wild in der Luft peitschten.
    "Mekaj! Tessa!" Mira ging in die Knie und umarmte beide Hunde gleichzeitig mit einem freudigen Lächeln. "Hört auf !", rief sie, als die Tiere übermütig an ihr emporsprangen, und wehrte die feuchten Hundezungen ab.
    Zu dritt erreichten sie die ersten Häuser. Eine Gruppe von Männern spielte im Licht von Öllampen Toope. Als Figuren dienten ihnen flache, weiße Steine und dunkle Schiddlegg-Hörner. Ihr fünfeckiges Spielbrett war der mit kleinen Aushöhlungen versehene Wüstenboden. Ganz am Rand der Versammlung lag bäuchlings einer der Dorfmechaniker und versuchte, die Einzelteile eines Sandschlittenmotors wieder zu einem funktionierenden Ganzen zusammenzufügen. Als Mira über die Ringstraße, die das gesamte Dorf umgab, auf eine der Speichenstraßen gelangte, die ins Zentrum führte, fiel ihr auf, dass irgendetwas anders war als sonst. Das Mädchen hielt inne, woraufhin sofort auch die Hunde abwartend stehen blieben.
    Ringsum herrschte reges Treiben. Die sonst so geruhsamen Dorfbewohner huschten aufgeregt zwischen den Häusern umher. Stimmengewirr erklang allerorten, doch niemand beachtete den anderen, geschweige denn Mira und die Hunde. Alles strebte Richtung Dorfplatz.
    Feierte man etwa ein Fest?
    Nein, davon hätte Mira etwas gewusst. Neugierig stellte sie sich auf die Zehenspitzen, konnte aber trotzdem nichts erkennen. Die beiden Hunde hoben plötzlich ihre Köpfe, als hätten sie eine Witterung aufgenommen. Ohne zu zögern, liefen sie in die Dunkelheit eines überdachten Innenhofes, der sich in unmittelbarer Nähe zur Straße öffnete. Mira wartete eine Weile, doch die Hunde kamen nicht wieder. Ein paar Atemzüge lang blieb alles ruhig, dann erschallte lautes Gebell aus dem Hof, gefolgt von einem schmerzerfüllten Winseln. Tessa kam aus der Dunkelheit gerannt, als hätte ihr ein Sandrochen in den Schwanz gekniffen. Sie schlug einen Haken und verschwand eilends die Hauptstraße hinunter. Kurz darauf tauchte auch Mekaj aus der Dunkelheit auf, allerdings nicht so ungestüm wie Tessa. Er hatte sein rechtes, scheinbar verletztes Hinterbein angewinkelt und humpelte der Hündin langsam hinterher.
    Mira zog scharf die Luft ein. Sie schloss die Hände um den Tragriemen ihres Rucksacks und ging langsam auf den Innenhof zu. Erkennen konnte sie nichts, doch glaubte sie, ein amüsiertes Kichern aus der Dunkelheit zu hören. Dann trat sie in den Schatten und blieb mit pochendem Herzen stehen.
    Irgendwo aus der Finsternis kam ein leises, metallisches Klopfen.
    "Wer ist da?", fragte Mira, obwohl sie bereits ahnte, wer sich dort hinten im Schatten versteckt hielt.
    Wieder hörte sie das Kichern. Dann zischte eine Streichholzflamme, und geblendet von dem plötzlichen Licht erkannte sie das hämisch grinsende Gesicht von Jumper.
    "Du natürlich!", fauchte Mira.
    Jumper entzündete eine Öllampe und platzierte sie neben sich auf einer Holzkiste. Ein Stück entfernt hockte Jumpers Freund Saliv und starrte Mira mit großen Mandelaugen und hängender Unterlippe an. Egal, ob Saliv ein Mädchen, einen leckeren Kuchen oder ein Schiddlegg-Euter betrachtete, er machte dabei immer das gleiche Gesicht. Eigentlich tat er Mira leid. Zumindest mehr als dieses verschlagene Aas von Jumper.
    "Hi, Mira", grüßte Jumper und sah grinsend zu ihr herauf.
    "Hi, Mira …", kam es wie ein Echo von Saliv.
    "Hallo, Saliv."
    Jumpers Augen blitzten. Die Tatsache, übergangen worden zu sein, schmeckte ihm überhaupt nicht.
    Mira verschränkte die Arme vor der Brust und sah Jumper herausfordernd an. Der stämmige Junge hatte als Kind bei einem Unfall beide Beine verloren. Seitdem wuchtete er seinen Körper auf den Händen voran.
    "Na, was ist ?", fragte Mira. "Was wollt ihr ? Nur Hallo sagen und Hunde verprügeln?"
    Jumper gab Saliv einen ungeduldigen Schubs.
    "Wir - äh …", begann Saliv.
    Mira legte ihren Kopf schräg. "Ja ?"
    "Hast du Ware dabei?"
    "Ware ist es erst morgen", wich Mira aus. Sie wusste nur zu gut, worauf die beiden hinauswollten.
    "Dürfen wir sie sehen?" Jumper leckte sich die Lippen.
    "Sie sehen?", plapperte Saliv nach.
    "Morgen", entschied Mira. "Auf dem Markt, wie alle anderen auch."
    Sie wandte sich um, doch Jumper sprang auf beiden Händen blitzschnell nach vorne und krallte seine Finger in Miras Mantel. In seiner anderen Hand blitzte plötzlich ein Messer, das er Mira an die Kniekehle legte.
    "Nein, jetzt !", entschied er grimmig. "Oder willst du, dass ich dir die Sehne durchschneide?"
    Mira sah verärgert zu Jumper hinab.
    "Ich will sie nur mal sehen", grinste Jumper. "Und vorbestellen."
    Saliv rutschte von seiner Kiste und trat einen Schritt heran. "Jumper, du hast gesagt, dass wir …"
    "Halt die Klappe!", fuhr Jumper ihn an und schlug ihm von hinten gegen die Beine. Saliv riss die Augen noch ein Stück weiter auf und kippte hintenüber. Wimmernd blieb er im Sand liegen und hielt sich seine schmerzenden Ellbogen.
    Mira funkelte Jumper wütend an. Sie wusste, welch enorme Kraft in seinen Armen steckte und dass er ihr damit weit überlegen war. Das lange Laufen - oder besser gesagt: Hüpfen - auf seinen Händen hatte ihm Bärenkräfte verliehen, die Mira ebenso fürchtete wie beneidete. Jumpers Oberarmmuskeln waren so mächtig wie Pumpkolben. Wenn er wollte, konnte er sich mit den Armen mühelos den Sendemast hinaufhangeln - vierzig Meter senkrecht am Gestänge empor bis auf die Funkplattform, ohne dass seine Muskeln dabei erlahmten.
    Mira streifte den Rucksack von der Schulter, öffnete ihn und schüttete seinen gesamten Inhalt auf den Boden.
    "Die sind ja alle kaputt", beschwerte sich Jumper, nachdem er die Tiere begutachtet hatte.
    "Sie sind zumindest vollständig", konterte Mira. "Was man von dir nicht grade behaupten kann …"
    Ehe sie sich versah, spürte sie keinen Boden mehr unter den Füßen. Dann prallte sie so hart auf den Rücken, dass ihr die Luft wegblieb. Jumper zog sich heran und beugte sich mit dem Messer über sie. Seine Augen blitzten gefährlich.
    "Du wirst so etwas nie wieder sagen!", stieß er Wort für Wort hervor. Seine Stimme bebte vor Wut und sein Atem ging keuchend. "Nie wieder! Sonst fehlt dir auch bald ein Stück! Deine hübsche Nase vielleicht oder …" Sein Blick wanderte über ihren Körper. Er grinste und drückte ihr einen feuchten Kuss auf die Lippen. "Nie wieder, kapiert !", wiederholte er flüsternd. Ruckartig ließ er von Mira ab, stopfte ihre Beute zurück in den Rucksack und warf ihn ihr vor die Füße. "Ich erwarte dich morgen auf dem Markt. Sei pünktlich!"
    Mira erhob sich wortlos, wobei sie ihren schmerzenden Rücken ignorierte. Saliv saß ruhig da und beobachtete das Geschehen.
    Es war zwecklos, Jumper in dieser Situation zu widersprechen und ihn damit noch mehr zu reizen. Sollte er ihr Schweigen
    deuten, wie er wollte.
    "Na los, steh auf !", forderte Jumper Saliv barsch auf. "Geh zu Rico und beschaff mir etwas zu essen. Ich habe Hunger."


Jedes Mal, wenn Mira den beiden begegnete, bedeutete das Ärger. Ärger für Mira wohlgemerkt, nicht für Jumper. Der bekam zumeist das, was er wollte. Er war ein äußerst verschlagenes Beispiel für einen Beta. Seine verkrüppelten Beine hatten ihn zu einem Außenseiter gemacht, und das Einzelgängerdasein hatte seinen Charakter verdorben. Manchmal wünschte sich Mira, eine Ambodruse zu ihm locken zu können … Jumper war kaum älter als Mira, doch er nutzte seine Kräfte den anderen gegenüber rücksichtslos aus. Nur ein einziges Mal hatte sie ihn schwach, fast hilflos erlebt: auf dem Friedhof, wo er still vor einem der Gräber gekauert hatte.
    Der geistig etwas zurückgebliebene Saliv hing an ihm wie eine Klette. Er war Jumpers rechte Hand oder vielmehr: seine linke, denn Jumper behandelte ihn mehr wie einen Sklaven. Der arme Kerl gehorchte Jumper aufs Wort und machte sich in seiner naiven Treuherzigkeit für ihn die Hände schmutzig.
    Missgelaunt lief Mira die inzwischen fast menschenleere Speichenstraße ins Dorfzentrum hinunter. Mittlerweile schienen sich alle Bewohner auf dem Dorfplatz eingefunden zu haben. Miras Neugier, was dort wohl für so viel Aufregung sorgte, war seit ihrer Begegnung mit Jumper ein wenig verflogen. Wieder wischte sie sich mit dem Ärmel ihres Umhangs über die Lippen, und als sie an einem Brunnen mit Handpumpe vorbeikam, wusch sie sich das Gesicht, bis ihre Haut vom kalten Wasser fast taub war. Was bildete sich dieser Widerling von Jumper eigentlich ein, sie zu küssen? War das etwa seine neue Masche?
    Bis zum kommenden Morgen würde Mira sich überlegen, wie sie ihn auf dem Markt vor allen Leuten bloßstellen konnte. Irgendetwas würde ihr schon einfallen. Und falls nicht ihr, dann garantiert Bausch. Der Kapitän hatte immer eine gute Idee. Von grimmiger Genugtuung erfüllt, beschleunigte Mira ihre Schritte wieder. Etwas Außergewöhnliches ging dort auf dem Dorfplatz vor, und dank Jumper war sie wieder mal die Letzte, die erfuhr, was. Als sie jedoch kaum noch fünfzig Meter von dem Menschenauflauf entfernt war, erklang hinter ihr eine vertraute Stimme und rief ihren Namen.
    Mira zuckte zusammen und drehte sich erschrocken um. Ein Ärgernis kommt selten allein, durchfuhr es sie, denn der hochgewachsene Mann, der forschen Schrittes auf sie zukam, war niemand anderes als ihr Vater. Er war in seinen hellbraunen Abendumhang gekleidet und hatte die Hände in schwarzen Ausgehhandschuhen verborgen. Seine Miene war ernst und gespannt und Mira deutete sie im ersten Moment als Zorn.
    "Tut mir leid", begann sie zu stottern, als ihr der Rucksack und dessen Inhalt bewusst wurden. "Ich dachte, es könnte … ach, Mist …"
    "Ich habe dich bereits überall gesucht", erklärte ihr Vater, als er sie erreicht hatte. "Wo hast du denn gesteckt ?"
    "Ach … ich hatte nur eine … äh … Besprechung …"
    Ihr Vater hob zweifelnd die Augenbrauen. "Lass mich raten: mit deinem speziellen Freund Jumper?"
    "Er ist nicht mein Freund!"
    "Ah, schon hast du dich verraten." Er klopfte ihr den Staub aus dem Mantel. "Und, wie ist deine Besprechung verlaufen?", fragte er scheinheilig. "Was tut dir heute weh ?"
    Mira schnaubte. "Nichts."
    "Na, dann ist ja alles bestens." Er legte eine Hand auf ihre Schultern und zog sie mit sich. "Komm, wir sollten uns beeilen."
    "Was ist denn eigentlich los ?"
    "Hast du gejagt?", erkundigte ihr Vater sich stattdessen. Seine Stimme klang erwartungsvoll.
    "Ja", antwortete Mira kleinlaut und spürte einen Knoten im Magen.
    "Allein?"
    "Ja …"
    "Und? Hattest du Erfolg ?"
    "Natürlich." Sie musste schlucken.
    "Gut. Das ist gut."
    Gut? Mira verstand die Welt nicht mehr. "Aber …"
    "Heute ist es gut", unterbrach sie ihr Vater. "Wenn du es je wieder allein tust, sperre ich dich für den Rest des Jahres in deinem Zimmer ein. Hast du mich verstanden?"
    "Ja."
    "Versprich es mir!"
    "Das ist nicht fair …" Es gab für Mira kaum etwas Schlimmeres als ein erzwungenes Versprechen.
    "Na?", drängte ihr Vater.
    Mira schwieg eine Weile. "Na gut, versprochen", murrte sie schließlich. "Wohin gehen wir?"
    "Dorthin, wohin alle gegangen sind - zum Dorfplatz."
    "Was ist denn überhaupt los ?", wiederholte sie ihre Frage.
    "Du hast Besuch."
    "Besuch!?" Mira glaubte, ihren Ohren nicht zu trauen. "Bei uns? Wir hatten doch noch nie Besuch."
    "Hin und wieder schon", sagte ihr Vater leise, während sie sich dem überfüllten Marktplatz näherten. "Du kannst dich nur nicht mehr daran erinnern, weil du zu jung warst …"
    "Was denn für Besuch?", wollte Mira wissen. Dann erst begriff sie, was ihr Vater gesagt hatte, und wäre fast gestolpert. "Ich?", japste sie. "Ich habe Besuch? Aber - von wem denn? Woher? Wieso?"
    "Jemand aus dem Institut ist gekommen." Obwohl ihr Vater leise sprach, glaubte Mira, einen Anflug von Besorgnis aus seiner Stimme herauszuhören. "Der Sohn eines alten Bekannten."
    "Du hast Freunde im Institut?"
    "Einen Kollegen", erwiderte ihr Vater. "Wir haben bis zu den Sonnenstürmen gemeinsam in den Plantagen gearbeitet."
    "War er damals auch krank?", fragte sie.
    Ihr Vater hielt unmerklich im Gehen inne. "Wie kommst du denn darauf?"
    Mira zögerte mit ihrer Antwort. "Bausch hat mir davon erzählt."
    "Bausch …!" Ihr Vater sprach den Namen mit hörbarer Verachtung aus. "Ich werde mich mit dem alten Säufer mal unterhalten müssen, glaube ich." Er schob sich im Laufen eine Handvoll Nüsse in den Mund und schwieg, bis sie den Dorfplatz erreicht hatten.