DAS AION - Kinder der Sonne
Leseprobe 1

Aion Panorama

Prolog



            Diese Welt, dieselbe von allem, hat weder ein Gott
            noch ein Mensch geschaffen, sondern sie war immer,
            ist immer und wird sein ewig lebendes Feuer,
            sich entzündend nach Maßen und erlöschend nach Maßen.

            Heraklit von Ephesos


Für einen kurzen Moment ließ Mira sich von einem aufschreckenden Käuzchen ablenken, das im Schutz der Nacht ein kleines Nagetier erbeutet haben musste. Trotz der Dunkelheit war das Mädchen die enge Häuserschlucht hinaufgerannt, hatte zwei, drei Stufen auf einmal genommen, eine Hand in den Saum seines Mantels gekrallt, die andere zur Orientierung an der vorbeirasenden Häuserwand ausgestreckt.
    Nun hatte sie sich vor Aufregung dazu verleiten lassen, dem erschrocken davonflatternden Nachtvogel nachzublicken. Mira verfehlte eine Stufe und stolperte. Beim Versuch, den drohenden Sturz abzufangen, verlor sie zwei der silbernen Blätter, die sie bei sich trug. Das Mädchen stieß einen leisen Fluch aus, rannte ein paar Stufen abwärts und las den verlorenen Schatz wieder auf. Geschwind verstaute es die Blätter in seiner Manteltasche und hastete weiter.
    Die Treppe war stellenweise so schmal, dass Mira die Häuserwände links und rechts mit den Fingerspitzen hätte berühren können, wenn sie beide Arme ausstreckte. Ihre Stufen führten in einem weiten Bogen empor auf einen menschenleeren Platz, der von gedrungenen, fensterlosen Gebäuden umgeben war. Im Mondlicht glitzerte sein Boden von Tausenden und Abertausenden von Glimmerstückchen, die in den Pflastersteinen eingeschlossen waren. Mira fühlte sich, als liefe sie über den Sternenhimmel.
    Das Mädchen lauschte nach verräterischen Schritten und Stimmen, doch es hörte nur den Wind, der durch nahe Baumkronen rauschte. Keine Wachen, kein lichtscheues Gesindel, der Platz war verlassen. In seinem Zentrum befand sich ein weiter Kreis grob behauener Steinquader, der einen runden, hüfthohen Sockel umschloss. An seiner der Treppe abgewandten Seite erhob sich ein mächtiger Schatten. Auf den ersten Blick sah er aus, als hätte jemand einen Haufen Säcke übereinandergestapelt. Ohne im Schritt innezuhalten, eilte Mira um den Steinkreis herum. Der Schatten besaß einen riesigen, runden Kopf, der auf einem krummen Schwanenhals saß und so platt war wie ein Brotfladen. Erst als Mira schwer atmend vor ihm stand, verharrte sie für einen Moment. Im Mondlicht wirkte ihr Gegenüber wie eine gigantische, vornübergebeugte Denkerstatue, die - beide Ellbogen auf die Knie gestützt - zu Boden starrte.
    "Jadamon?" Das Mädchen sah sich verstohlen um und trat über den Steinwall hinweg. "Jadamon, wach auf !"
    Der Schatten hob langsam den Kopf. Dabei knirschte es, als reibe Stein auf Stein. "Ich schlafe nicht, Mira", erklang eine tiefe, sandige Stimme. "Ich schlafe nie."
    "Entschuldige." Das Mädchen senkte den Blick. "Es sah aber so aus …"
    "Glaube nicht immer, was du siehst", murmelte Jadamon. "Glaube nur das, was du weißt. Ich habe lediglich zwei Nachtmarbeln beobachtet, die vor einer Stunde hier vor mir auf dem Boden gelandet sind. Seitdem streiten sich die beiden, ob sie rechts- oder linksherum um meine Füße wandern sollen. Im Augenblick diskutieren sie über die Wahrscheinlichkeit, dass auf der linken Seite ein Marbelwolf lauert …"
    "Das kannst du doch gar nicht hören", sagte Mira.
    "Und ob ich das kann! Eine der beiden ist gerade dabei, das Terrain neben meinem linken Fuß auszukundschaften. Die zweite sitzt nur rum und macht ein griesgrämiges Gesicht. Sieht aus, als wäre sie beleidigt."
    "Aber Nachtmarbeln sind sooo winzig!", rief das Mädchen gedämpft und hielt Daumen und Zeigefinger so nah zusammen, dass kaum noch ein Haar dazwischengepasst hätte.
    "Ich weiß", gab Jadamon zurück. "Doch ich habe scharfe Augen. Ich kann von hier aus die Spinne sehen, die über dem Arbeitszimmerfenster des Magistraten dort oben ihr Netz webt."
    Mira warf einen Blick hinab in Richtung Marktplatz. Bis zum Haus des Magistraten waren es gut und gerne dreihundert Meter Luftlinie.
    "Die Spinne hingegen", fuhr Jadamon fort, "kann all die Beschlüsse, Formulare, Urkunden und Erlasse erkennen, die der Magistrat unterschreibt, und webt die Informationen für mich in ihr Netz. Ich brauche sie dann nur noch abzulesen, und schon weiß ich, was ich wissen muss."
    Mira verzog den Mund. "Lass mich raten: Die Spinne beim Magistraten ist nicht die einzige."
    "Natürlich nicht. Viele wichtige Häuser erfordern viele fleißige Spinnen. Ich besitze ein wahres Netzwerk von Informanten. " Und mit einem verschwörerischen Unterton fügte Jadamon hinzu: "Ist natürlich eines meiner Berufsgeheimnisse. Sag's also keinem weiter … Oh, Flint kommt zurück." Jadamon sah wieder in die Dunkelheit zu seinen Füßen, wo sich die beiden winzigen Insekten befinden mussten.
    "Flint ?"
    "Mhm …"
    "Du hast ihnen Namen gegeben?", fragte Mira verwundert.
    "Natürlich."
    "Aber - es sind doch nur Nachtmarbeln!"
    "Na und? Vielleicht kann ich sie dazu überreden, für mich zu arbeiten. Flint hier" - er deutete mit seiner großen, vierfingrigen Hand auf den Boden -, "könnte im Fell eines Hundes nachts durch die Gassen streifen und mir am nächsten Morgen den Klatsch und Tratsch der Leute erzählen."
    "Ich muss dir auch etwas sehr Wichtiges erzählen", sagte Mira ungeduldig.
    "Ich müsste dafür natürlich noch einen streunenden Hund rekrutieren", überlegte Jadamon, ohne auf das Mädchen zu achten. "Und Farfal hier - nun, für die finde ich bestimmt auch noch eine Aufgabe. Ich könnte sie im Gefieder eines Vogels einquartieren und endlich damit beginnen, überregional zu arbeiten …" Der Schatten verstummte. "Hm, ich merke, es interessiert dich nicht so besonders."
    "Doch, aber …"
    "Na ja, du hast Recht, es sind schließlich nur Marbeln." Jadamon zuckte mit den Schultern, worauf Sand zu Boden rieselte. "Und dass eine von ihnen einen Arbeitsvertrag unterschreibt, ist so wahrscheinlich wie ein Federfrosch-Küken, das versucht, den Wurf einer getrockneten Kotkugel nachzuahmen, welche von einem magenkranken Cie-Käfer geschleudert wird, um einen Schützenfisch zu reizen, der sich durch das Spucken von Bachkieseln bemüht, eine Schmetterlingslarve von einem Farnblatt zu schießen, die damit beschäftigt ist, ihren Kokon zu weben und dabei von einem Nada- Nadllib beobachtet wird, der gelangweilt auf einem Ast liegt und Sandwürmer kaut …"
    Mira trat nervös von einem Fuß auf den anderen. "Jadamon …"
    "Ja?", kam es gedehnt aus der Dunkelheit.
    "Nebethaum ist weg."
    Der Schatten sah das Mädchen eine Weile schweigend an. "Weg? Wie weg?"
    Mira biss sich nervös auf die Unterlippe. "Fort", erklärte sie. "Verschwunden. Dort, wo er stand, klafft nur noch ein großes Schlammloch."
    "Oha …" Jadamon erhob sich knirschend und sah aus über drei Metern Höhe auf das Mädchen herab. "Das ist interessant. Davon wusste ich ja noch gar nichts. Abgehauen, sagst du? Einfach aus dem Staub gemacht?"
    "Das glaube ich kaum, bei seiner Größe."
    "Bestimmt hat man ihn gefällt, für Bauholz. Ich habe gehört, am Osthang sei ein Neubaugebiet geplant."
    "Gefällt ?!", empörte sich Mira. "Jadamon, der Nebethaum ist heilig !"
    "Hm, dann ist er womöglich abgestürzt. Vielleicht hat er gestern Abend einen über den Durst getrunken und das Gleichgewicht verloren. Er stand immerhin ziemlich nah an der Klippe …"
    "Jadamon", unterbrach ihn Mira, "wir reden hier über einen einhundert Meter hohen Baum."
    "Bist du wirklich sicher, dass er fort ist ?", zweifelte Jadamon. "Vielleicht hat er ja nur eine Winterdepression …"
    "Ich habe ihn mit eigenen Augen im Boden versinken sehen!", sagte das Mädchen und kam ein paar Schritte näher.
    "Das Überschreiten der Absperrung der Weissagezone ist eigentlich verboten", murmelte der Schatten.
    "Ach, hör doch auf !", brummte Mira. "Das wüsstest du doch selbst nicht, wenn du nicht vor lauter Neugier rübergegangen wärst und das Schild dort hinten gelesen hättest."
    "Vielleicht hat Nebethaum sich ja nur nach innen gestülpt, um seine Wurzeln zu putzen", überlegte Jadamon.
    "So ein Unsinn." Mira griff in die Tasche ihres Mantels und zog drei silberne, im Mondlicht glänzende Blätter hervor, die sie Jadamon vor die Füße warf. "Hier", sagte sie. "Das ist alles, was von ihm übrig geblieben ist!"
    Ihr Gegenüber hob die Blätter auf und ließ sie nachdenklich durch seine Finger wandern. Sie klimperten wie wertvolle Münzen. "Puh", stieß Jadamon schließlich hervor. "Das ist beunruhigend. Lass mich kurz nachdenken. Was ist mit seinem Botentier? Ist es ebenfalls verschwunden?"
    "Welches Botentier?"
    "Diese neunmalkluge Chimäre, die sich ständig im Geäst herumgetrieben hat."
    "Amber? Nein, sie konnte sich retten."
    "Hierher, in die Stadt? Oh …" Der Schatten ließ sich nachdenklich auf seinen Steinsockel zurücksinken. "Dann ist sie alles andere als gerettet", sagte er. "Andererseits eröffnet das ganz neue Perspektiven. Falls du ihr heute Nacht noch begegnen solltest, frag sie doch bitte, ob sie für mich arbeiten möchte." Jadamon deutete auf die Stelle, wo die Marbeln herumlungern mussten, und ergänzte: "Zu den üblichen Konditionen, versteht sich."
    "Kannst du nicht mal für einen Moment ernst bleiben?", sagte Mira verärgert. "Der Weltenbaum ist verschwunden. Etwas Schlimmeres hätte gar nicht passieren können!"
    "Tja, kleine Jägerin, erst wenn etwas Außergewöhnliches geschieht, erkennen wir, dass diese Welt uns fremd ist", sprach Jadamon. "Wir sind beide hier gestrandet - mit dem kleinen Unterschied, dass ich mich mit der Welt bereits ein paar Jahrtausende länger auseinandersetze."
    Mira erschauderte leicht und blickte über die Dächer der Stadt hinab auf das Meer, das im Mondlicht glitzerte. "Was hat es mit diesem Botentier auf sich?", fragte sie. "Ich meine, wem überbringt Amber denn überhaupt Botschaften? Den Leuten, die dem Nebethaum eine Frage stellen?"
    "Den beiden …" Jadamon deutete mit dem Zeigefinger der rechten Hand in die Höhe und mit dem der linken Hand zu Boden. "Den beiden … nun, wie soll ich dir das erklären ?"
    "Wie jemandem, der keinen blassen Schimmer hat", gab Mira zurück.
    "Gar nicht so einfach", gestand Jadamon und blickte das Mädchen nachdenklich an. "Wie alt bist du ?"
    "Ein Orakel sollte das eigentlich wissen", sagte Mira. Als Jadamon weiterhin schwieg, seufzte sie: "Vierzehn Jahre, drei Monate und elf Tage."
    "Du zählst die Tage?"
    "Ich könnte stattdessen auch Nachtmarbeln dressieren."
    Jadamon ließ ein leises, amüsiertes Lachen hören. "Nun, dann bin ich fast dreihundertmal so alt wie du", sagte er. "Aber gut, ich will es trotzdem versuchen." Er blickte hinauf in den Nachthimmel, als könne er die Erklärung in den Sternen lesen, dann sagte er: "Jeder lebendige Weltenbaum beherbergt zwei Schöpfungstiere, eines unter seinen Wurzeln und eines in seiner Krone. Von Natur aus sind die beiden sich spinnefeind, reden aber trotzdem miteinander. Allerdings nicht persönlich, denn dazu sind sie viel zu eitel. Jeder Weltenbaum besitzt daher ein Botentier, das die Nachrichten zwischen den beiden rauf und runter transportiert."
    "Was denn für Nachrichten?"
    "Nun, eigentlich nur überflüssiges Zeug. Gehässigkeiten."
    "Sie beleidigen und beschimpfen sich?", staunte Mira. "Die ganze Zeit über?"
    "Das Aion wird sich schon etwas dabei gedacht haben", sagte Jadamon ausweichend.
    Mira zog unzufrieden ihr Kinn an die Brust. Kein Zweifel, Jadamon wusste mehr über diese Tiere, als er zugeben wollte. Aus irgendeinem Grund schien dem Orakel die Sache jedoch unangenehm zu sein.
    "Wie auch immer", fuhr er fort, "die Weltenbäume bilden die Brücke zwischen allem Irdischen und dem Aion. Verschwindet oder stirbt einer von ihnen, nimmt er die Lebenskraft seiner Welt mit sich."
    "Dann gibt es außer dem Nebethaum noch andere …"
    "Keine lebendigen, Mira", dämpfte Jadamon die Hoffnung des Mädchens. "Denn auf jeder Welt darf nur ein einziger Weltenbaum gedeihen und wirken. Aber offenbar ist selbst das jemandem zu viel …"
    "Was meinst du damit?"
    Jadamon schüttelte träge seinen Kopf. "Stell dir einfach mal vor, die Welt selbst wäre ein unfassbar großer Baum", begann er. "Und stell dir vor, das Aion wäre das Tier in der Baumkrone …"
    "Dann müsste folglich noch ein zweites Tier existieren, das so mächtig ist wie das Aion, aber unter den Wurzeln lebt", vollendete Mira das Gedankenspiel.
    "Eine ausgleichende Kraft", nickte Jadamon. "So ist es."
    "Und lass mich raten: Die beiden sind sich spinnefeind und reden nicht miteinander."
    "Ganz genau."
    Mira verstand plötzlich, worauf Jadamon hinauswollte. "Dann brauchen wir etwas, das zwischen ihnen vermittelt - bevor alles auf hört zu existieren. Ein Botentier !"
    "Oh, sicher kein Tier", beteuerte Jadamon.
    "Was dann?"
    "Das weiß ich nicht. Niemand außer dem Aion weiß das."
    Mira biss sich wieder auf die Unterlippe. "Wie viele Weltenbäume gab es denn?"
    Der Schatten winkte müde ab. "Diese Welt ist alt", wich er aus. "So alt, dass über die alten Bäume nur noch Legenden erzählt werden."
    "Wie viele?"
    Jadamon schwieg eine lange Zeit und betrachtete die drei silbernen Blätter. "Sieben, Mira. Aber sie sind schon lange tot …" Er sah das Mädchen eindringlich an, dann fragte er: "Willst du mir nicht endlich erzählen, wie alles begonnen hat, kleine Menschenfrau? Es ist doch kein Zufall, dass es dich in diese verrückte Stadt verschlagen hat."
    Mira atmete hörbar ein und aus. Dann setzte sie sich zögernd neben den riesigen schwarzen Schatten auf den Steinsockel. "Das ist eine lange Geschichte …"
    "Die Nacht ist jung", ermutigte sie Jadamon. "Und ich habe Zeit, Mira. Mehr Zeit, als du dir vielleicht vorstellen kannst."