Morphogenesis

Leseprobe 4 ___________________________________________________________



Lazarium 1-3


1

Er wusste nicht wie viel Zeit vergangen war, seit er die Augen geöffnet hatte. Es mochten Stunden gewesen sein, oder auch nur Minuten. Die Zeit strahlte astralweiß, durchsetzt von Reflexionen winziger Blitze, die vor seinen Augen nachleuchteten wie elektrische Funken. Sie schillerten in allen Farben des Spektrums, Kristalle in salzübersättigten Tränen, die als hauchdünner Film auf seinen Pupillen lagen.
    Er fand keine Konturen in diesem Weiß, selbst dann nicht, als er seinen Blick umher wandern ließ, in der Hoffnung, irgendetwas erkennen zu können. Er wusste nicht einmal, ob seine Lider tatsächlich offen waren und seine Pupillen sich bewegten. So sehr er auch suchte, er fand keine Kontraste, nicht einmal sanfte Schattierungen, die einen Eindruck von Nähe und Ferne vermittelten. Die einzigen Umrisse, die er wahrzunehmen glaubte, waren Trugbilder, optische Echos auf der Retina, hervorgerufen durch das Bemühen seines Verstandes, das allgegenwärtige Weiß zu etwas Sinnvollem zu formen.
    Langsam hob er eine kraftlose Hand vor sein Gesicht, dann eine zweite. Beide erschienen ihm wie Fremdkörper. Gleichzeitig vermittelten sie ihm etwas Beruhigendes; die Gewissheit, wach und lebendig zu sein. Er ließ die Hände sinken, strich über den Stoff einer Bettdecke, dann über die Matratze, bis er das kühle Metall des Bettgestells unter den Handflächen spürte. Er wollte sich aufrichten, aber etwas Massives behinderte ihn. Vorsichtig tastete er das Ding, das ihn gefangen hielt, ab. Es war ein Stützkragen, der vom Kinn abwärts seinen gesamten Hals umschloss und bis auf seine Brust reichte. Ein eisiger Schreck durchfuhr ihn, als er sich des vermutlichen Zwecks des Kragens bewusst wurde. Dann stellte er fest, dass er seine Zehen bewegen konnte, und entspannte sich.
    Ein Laut erregte seine Aufmerksamkeit. Es klang wie das Öffnen einer weit entfernten Tür. Leise, sich nähernde Schritte waren zu hören, begleitet von einem Geräusch, das er anfangs nicht einzuordnen wusste. Irgendetwas mit kleinen Kunststoffrädern unten dran, wie er glaubte. Ein Rollwagen vielleicht, oder ein billiger Bürostuhl. Er hob den Kopf, soweit es die Halsstütze zuließ, und sah in die Richtung, aus der die Schritte kamen. Aus dem Weiß näherte sich eine dickliche, ebenso sündenlos gekleidete Gestalt, die einen Infusionsständer neben sich her schob; eine Krankenschwester, wie er bald erkannte. Auf ihrem schwarzen, hochgesteckten Haar saß ein weißes Häubchen aus Stoff.
    Nachdem sie das Bett erreicht hatte, blieb sie neben ihm stehen, ohne ihn eines Blickes zu würdigen, und kontrollierte ein Schriftstück auf ihrem Klemmbrett. Als hätte sie bereits geahnt, etwas falsch gemacht zu haben, verzog sie die Mundwinkel, packte den Infusionsständer und umkurvte mit ihm die Liegestätte. Auf der anderen Seite angekommen, musterte sie das Bett, als wisse sie nicht so recht, was jenes Geschöpf, das darin lag, überhaupt sein sollte. Dann teilte ein Lächeln ihre Lippen, und sie sagte: "Guten Tag, Mister Ka. Nur noch mal zur Sicherheit: Sind Sie Rechts- oder Linkshänder?"
    Er leckte sich die Lippen und musste mehrmals ansetzen, ehe er in der Lage war, zu antworten.
    "Rechts…"
    Seine Stimme klang heiser und brüchig.
    "Wunderbar", flötete die Schwester. Sie deponierte das Klemmbrett am Fußende des Bettes und begann seinen Unterarm zu desinfizieren. "Fachleute behaupten ja, dass geborene Linkshänder die besseren Rechtshänder seien", begann sie zu schnattern, während sie einen Stauriemen um seinen linken Oberarm legte. "Wussten Sie eigentlich, dass fast alle Walrosse Rechtshänder sind? Zum Ausgraben von Muscheln benutzten sie in sechsundsechzig Prozent aller Fälle die rechte Flosse, und nur in vier Prozent der Fälle die linke. Wird man also von einem Linkshänder ermordet, kann es mit sechsundsechzigprozentiger Sicherheit kein Walross gewesen sein." Sie lachte geziert über ihren Witz und desinfizierte die Haut an seinem Unterarm.
    "Und die restlichen dreißig Prozent …?", krächzte er.
    "Schonen Sie Ihre Stimme, Mister Ka", mahnte ihn die Schwester.
    "Mein Name ist nicht Ka".
    "Ach, nein?" Sie hielt in ihrem Tun inne und starrte den ethanolgetränkten Wattebausch an. "Wie lautet er dann?"
    Er dachte eine Weile nach. "Ich - ich weiß es nicht mehr …", gestand er. "Wo bin ich hier?"
    Durch die Krankenschwester ging ein Ruck. "Mister Ka, Mister Ka, Mister Ka", sang sie leise, "weiß nicht mehr, weiß nicht mehr, wer er war …"
    "Bitte?"
    Sie ignorierte ihn, befestigte einen großen Plastikbeutel mit einer kristallklaren blauen Flüssigkeit am Infusionsständer und bereitete die intravenöse Gabe vor. Das Wort Larynx prangte in dicken Lettern auf dem Etikett. "Was ist das für ein Zeug", erkundigte er sich, als die Schwester eine geeignete Vene suchte, um die Nadel zu legen.
    "Na, wollen Sie etwa für immer einen Stützkragen tragen?", erhielt er als Antwort.
    Die Art, wie sie mit ihm umging, irritierte ihn. War er vielleicht schon länger hier? War er womöglich gar nicht zu ersten Mal bei Bewusstsein? Hatte man ihn bereits gestern oder vorgestern über die Umstände aufgeklärt, und er hatte alles wieder vergessen? Dieser Gedanke machte ihm Angst. Doch nicht nur das Kurzzeitgedächtnis schien ausgelöscht, sondern alle Erinnerungen. Als die Infusionsnadel durch seine Haut stach und die blaue Flüssigkeit kalt durch seine Adern strömte, ließ er sich erschöpft ins Kissen zurück sinken.
    "Was ist überhaupt passiert?"
    "Das kann ich Ihnen nicht sagen."
    "Wer dann?"
    "Schwester 26. Aber sie ist heute nicht da …"
    "Könnten Sie mir wenigstens meine persönlichen Sachen bringen?"
    "Das darf ich nicht."
    "Und wer darf es?", fragt er mühsam beherrscht.
    "Doktor 8."
    "Lassen Sie mich raten: Er ist heute nicht da."
    "Doch", entgegnete die Schwester. "Aber Sie sind nicht der Einzige, um den er sich kümmern muss."
    Er hob den Kopf und blickte demonstrativ in die leere Halle.
    "Das ist ein 24-Stunden-Tropf", erklärte die Schwester, nachdem sie die Kanüle befestigt und einen Verband angelegt hatte. "Wenn Sie die Infusion unterbrechen, müssen wir wieder von vorne anfangen." Sie zupfte und prüfte, ob alles ihrer Zufriedenheit entsprach, dann schnappte sie ihr Klemmbrett und wandte sich zum Gehen.
    "Warten Sie …" Er hustete sich die trockene Kehle frei. "Was passiert mit mir?"
    "Jemand wird bald wieder nach Ihnen sehen."
    "Bald? Wann? Sobald ich alles wieder vergessen habe?"
    Die Schwester runzelte die Stirn, zog enerviert das Kinn an die Brust und schüttelte den Kopf."Man wird Sie hier schon nicht vergessen", tadelte sie ihn. Dann machte sie auf dem Absatz kehrt und schritt davon. "Mister Ka, Mister Ka", sang sie dabei vor sich hin, "weiß nicht mehr, wer er war …"

Minutenlang blieb er regungslos liegen, bis die immer undeutlicher gewordene Gestalt der Krankenschwester in der weißen Ferne verschwunden war. Es hatte ausgesehen, als sei sie vom Nebel verschluckt worden. Aufmerksam lauschte er nach dem Geräusch der Tür, doch nichts war zu hören.
    Er versuchte das, was er seit seinem Erwachen erlebt hatte, irgendwo einzuordnen. Platz dafür war in seinem erinnerungsleeren Kopf theoretisch genug vorhanden, erkannte er mit bitterer Ironie. Das Problem war, es auch zu begreifen. Nachdenklich betrachtete er den Infusionsständer, verfolgte das Tröpfeln der blauen Lösung in die Tropfkammer und stellte sich vor, wie sich das Blut in seinen Adern langsam ins Violette verfärbte.
    Violett, die Farbe der Könige. Die Farbe des Geistes. Die Farbe der Magie, des Jenseitigen und der Träume …
    Er schloss die Augen und versuchte zu schlafen, doch die plötzliche Angst, im Schlaf alles zu vergessen, um erneut völlig arglos und desorientiert zu erwachen, ließ ihn wieder aufschrecken. Sein Blick traf erneut den Beutel mit der Infusionslösung. Gesund sah die blaue Flüssigkeit wirklich nicht aus. War sie es vielleicht, die das Vergessen brachte?
    Larynx …
    Er hatte dieses Wort schon einmal gehört, hatte gewusst, was es bedeutete. Früher, vor dem Vergessen. Vor dem …
    Eine Hand schützend an die Halsstütze gelegt, spannte er die Muskeln und richtete sich langsam auf. Der erwartete Stich im Nacken blieb aus, ebenso die plötzlichen Kopfschmerzen und die Übelkeit. Folglich hatte er weder einen gebrochenen Halswirbel, noch ein Schleudertrauma.
    Vielleicht befindest du dich auch schon sehr lange hier, flüsterte eine Stimme in seinem Kopf. Viel zu lange, um noch Symptome deines einstigen Leidens zu zeigen …
    Entschlossen schwang er die Beine über die Bettkante und wartete, bis der Schwindel, den der Blutdruckabfall im Kopf verursachte, vorüber war. Dann stützte er sich mit beiden Armen ab und ließ sich vom Bett gleiten. Seine Beine trugen sein Gewicht. Kein atrophisches Zittern, kein Schmerzen der Sehnen. Entweder war er bisher jeden Tag herumgelaufen und hatte es über Nacht wieder vergessen, oder er befand sich tatsächlich erst seit kurzer Zeit an diesem Ort.
    Er tat ein paar vorsichtige Schritte vom Bett weg, wobei er sich am Infusionsständer abstützte. Die Kühle des Fußbodens fühlte sich gut an unter seinen nackten Fußsohlen. Er prüfte den Sitz der Halsstütze und das Rinnen der Infusionslösung, dann machte er sich auf den Weg, wobei er den Ständer auf vier kleinen Rollen neben sich her schob. Da niemand zu ihm kam, um ihn über die Umstände seines Aufenthaltes aufzuklären, musste er eben jemanden suchen, der die nötigen Kompetenzen dazu besaß.
    Nachdem er etwa einhundert Meter weit gelaufen war, ohne eine Zimmerwand zu erreichen, blieb er stehen und warf einen verunsicherten Blick zurück. Einsam stand sein Bett in der weißen, konturlosen Ferne. Das war kein Krankenzimmer, das war eine Krankenhalle von den Ausmaßen eines Hangars. Weit und breit war kein weiteres Bett zu sehen, aber auch sonst nichts, woran er sich hätte orientieren können. Er packte den Infusionsständer fester und ging weiter in die Richtung, in der die Krankenschwester verschwunden war. Irgendwo dort hinten musste es eine versteckte Tür geben …



2

Zuerst hielt er es für eine Trennscheibe aus Glas. Die Oberfläche war glatt und kühl, doch als er mit der Faust dagegen schlug, erzeugte sein Hieb keinerlei Klang. Langsam folgte Ka der eigenartigen Wand und ließ dabei seine Handfläche prüfend an ihr entlang gleiten. Er hoffte einen Spalt zu erfühlen, einen verräterischen Lufthauch, der auf eine verborgene Tür hinwies, aber da war nichts. Würde er die Wand nicht unter seinen Fingern spüren, würde er an ihrer Existenz zweifeln. Soweit sein Blick reichte, war keine Unterbrechung der Oberfläche zu erkennen; keine Tür, keine Klinke, kein Schloss. Die Wand war weiß und ohne Konturen wie der Rest dieser Krankenhalle. Die einzigen Formen bildeten sein in der Ferne kaum noch zu erkennendes Krankenbett und er selbst.
    Plötzlich gab die Oberfläche unter seiner Hand leicht nach. Es geschah so unerwartet, dass er ein paar Meter weiterlief und erst stehen blieb, als die Wand bereits wieder massiv war. Dann ging er aufgeregt rückwärts, bis er die Stelle abermals erreichte: eine Schwingtür! Nahezu unsichtbar war sie in die Wand eingefügt und gab lautlos nach, sobald er dagegen drückte. Vorsichtig streckte er seinen Kopf hindurch. Nichts war auf der anderen Seite zu hören, aber zum ersten Mal sah er eine Kante. Sie verlief auf dem Fußboden, kaum zwei Schritte entfernt und parallel zur der Wand, der er seither gefolgt war. Jenseits der Tür befand sich ein Flur!
    Ka sah sich um, dann schlüpfte er mit dem Infusionsständer durch den Ausgang. Der Korridor war so schmal, dass seine Fingerspitzen die Wände berührten, sobald er die Arme ausstreckte. Wie hoch er war, konnte Ka nicht abschätzen. Vielleicht fünfzig Meter, vielleicht aber auch weitaus höher. Der Länge nach schien der Korridor sich wie die Halle, in der Ka erwacht war, ins Unendliche zu erstrecken - mit einem bedeutenden Unterschied: In einiger Entfernung saß ein Mensch auf dem Boden!
    Die Person, die in dieselbe schlichte Krankenhauskluft gekleidet war wie Ka, nahm keine Notiz von ihm, als er mit über die Fliesen ratterndem Infusionsständer auf sie zu ging. Beim Näherkommen bemerkte er, das sie ebenfalls einen Infusionsständer bei sich hatte. Allerdings war er umgestürzt und lag neben ihr auf dem Boden.
    Als Ka das zusammengesunkene Bündel Mensch erreicht hatte, erkannte er, das es sich um eine Frau handelte. Sie war mittleren Alters und sehr hellhäutig, besaß jedoch eine unverkennbar arabische Physiognomie. Während ruhige, gleichmäßige Atemzüge ihre Brust hoben und senkten, blieb ihr Blick teilnahmslos auf die gegenüber liegende Wand gerichtet. Sie starrte, ohne jemals zu blinzeln, wie eine Wachsfigur.
    "Hallo?" Ka beugte sich über sie, bewegte eine Hand vor ihren Augen. "Können Sie mich verstehen?"
    Die Frau zeigte keinerlei Regung. Ka griff nach ihrem Infusionsständer und richtete ihn auf. Die Flüssigkeit in ihrem Beutel war bernsteinfarben und fast aufgebraucht. Lobus temporalis prangte auf ihrem Etikett. Er untersuchte die gläserne Tropfkammer, stellte fest, das durch den Sturz nichts beschädigt worden war, überprüfte den Sitz der Verweilkanüle am Arm der Frau und setzte den Tropf vorsichtig wieder in Gang.
    Nach ein paar Minuten blinzelte die Frau, erst einmal, dann mehrmals kurz hintereinander, als hätte man sie soeben aus tiefer Hypnose geweckt. Sie drehte langsam den Kopf, ihre Augen rollten suchend in den Höhlen, bis sie Ka erblickte.
    "Mehr …", flüsterte sie.
    Er starrte sie fasziniert an, riss sich schließlich von ihrem Anblick los und stellte die Schlauchklemme so ein, dass die goldene Flüssigkeit in kürzeren Intervallen in die Tropfkammer rann. Bald darauf kehrte weiteres Leben in die Frau zurück. Sie richtete sich auf, während ihr Körper sich spannte, und streckte Ka auffordernd eine Hand entgegen.
    "Danke, junger Freund", murmelte sie, nachdem er ihr auf die Beine geholfen hatte. "Ich fürchte, ich bin irgendwann gestolpert, und dann …" Sie fingerte an dem Infusionsbeutel herum und zog ihn von der Halterung. "Ah …", machte sie, hielt den Beutel ein paar Zentimeter weit vor ihre Augen und wiederholte: "Ah … Das wird kaum noch etwas nützen, wissen Sie." Ka antwortete nicht, was sie dazu veranlasste, den Beutel wieder aufzuhängen. "Aber ich sollte mir trotzdem einen neuen holen, wissen Sie? Ich glaube …" Sie beugte sich wieder vor und las etwas von dem Etikett ab. "Ja, ich glaube, das wird dann der mit der Nummer 1077 sein. Ja, 1077 … Aber das wird kaum noch etwas nützen, wissen Sie …"
    "Soll das heißen, dass Sie bereits über eintausend dieser Infusionen erhalten haben?", wunderte sich Ka.
    "Es nützt ja nichts, wissen Sie", rechtfertigte sie sich. "Vorschrift ist nun mal Vorschrift. Es hilft ja ein bisschen, aber es ist nicht von Dauer … Nicht von Dauer, wissen Sie? Wie heißen Sie eigentlich, junger Freund?"
    "Ka."
    "Oh …" Sie wedelte mit einer Hand vor ihrem Mund herum, als wolle sie ihren schlechten Atem vertreiben. "Ja, alle heißen sie so … alle …" Sie hakte sich bei ihm ein und zog ihn mit sich. "Kommen Sie", forderte sie ihn auf. "Es wird kaum noch etwas nützen, aber ich zeige Ihnen, wo's lang geht …"



3

Ein dumpfes Grollen wie ferner Kanonendonner ließ Ka aufhorchen. Unter seinen Füßen erzitterte der Boden; zweimal, dreimal, während das Licht unruhig zu flackern begann. Dann ließen die Erschütterungen und das Getöse wieder nach. Sekunden später erstrahlte auch die Deckenbeleuchtung wieder gleichmäßig, und in dem Korridor, durch den sie schritten, war es so still wie zuvor.
    "Was war das?", fragte Ka die Frau, die unbeeindruckt neben ihm her schlurfte.
    "Was meinen Sie?"
    "Dieses Beben …"
    "Oh, das passiert ständig." Sie winkte ab, als ginge es um die zur allgemeinen Gewohnheit gewordenen Marotten einer lästigen Mitbewohnerin. "Ich höre schon gar nicht mehr hin. Mal rummst es da, mal rummst es dort … Im Laufe der Zeit gewöhnt man sich daran."
    "Warten Sie", bat Ka. Er ging zu einem der bullaugenartigen Fenster, die sich in den Korridorwänden öffneten, und versuchte es frei zu wischen, doch der Schmutz hatte sich von außen an der Scheibe festgesetzt. Es sah aus, als wäre er durch dreckiges, mit Rostpartikeln versetztes Wasser entstanden, das jahrelang gegen das Glas geschwappt und Schicht über Schicht getrocknet war. Nahezu unmöglich zu bestimmen, was sich jenseits des Fensters befand. Die verschwommenen Formen außerhalb des Gebäudes ähnelte kahlen, gedrungenen Bäumen oder einem rostigen Baugerüst, überlegte Ka. Er hatte sein Gesicht gegen die Scheibe gepresst und schirmte es mit den Händen gegen das Korridorlicht ab. Das Orangebraun auf der Außenseite des Fensters schien jedenfalls nicht allein vom Schmutz herzurühren.
    "Waren Sie schon mal draußen?", fragte er. Niemand antwortete ihm. Er blickte über seine Schulter und erkannte, dass die Frau einfach weitergelaufen war.
    "Ich brauche einen neuen Beutel", murmelte sie wie zur Entschuldigung, als er wieder zu ihr aufgeschlossen hatte. "Es wird zwar kaum noch etwas nützen, aber Vorschrift ist nun mal Vorschrift."
    Ka wiederholte seine Frage, worauf sie ihre Unterlippe vorschob und den Kopf schüttelte. "Nein. Nein." Dann sah sie ihn an und schmunzelte, als hätte sie einen zweideutigen Witz durchschaut. "Das war eine Fangfrage, nicht wahr?"
    "Bitte?"
    "Na, das mit dem Draußen …" Sie blinzelte ihm zu. "Wir sind doch schon längst draußen, junger Mann." Dann setzte sie eine verschwörerische Miene auf und senkte hinter vorgehaltener Hand ihre Stimme zu einem heiseren Flüstern: "Und wissen Sie was? Ich glaube, die Schwestern haben es noch gar nicht gemerkt …" Sie kicherte schelmisch und begann ein Lied über das Zigeunerleben zu singen.
    Ka nickte ergeben und ließ sich ein paar Schritte zurückfallen. Der Frau konnte wohl tatsächlich nicht mehr geholfen werden, selbst wenn ihr neuer Infusionsbeutel so groß ausfallen würde wie ein Fesselballon. Zumindest schien sie den Weg zu kennen - wohin auch immer er sie beide führen mochte.

Der Raum, in den der Korridor mündete, ließ sich fast schon als Halle bezeichnen; nicht sonderlich hoch, doch so ausgedehnt, dass Dutzende von weiß getünchten Säulen die Decke stützen mussten. Während der Raum höchstens dreißig Meter in der Breite maß, erstreckte er sich in der Länge über mindestens einhundert Meter, ehe er mit einer Wand abschloss, in die, wie Ka aus der Ferne zu erkennen glaubte, drei große Doppeltüren oder transparente Wände eingelassen waren.
    Das auffälligste an der Halle war eine Konstruktion, die Ka zuerst für eine weitläufige Video-Installation hielt; eine endlose Phalanx aus Monitoren, die sich rundum an den Wänden erstreckte. Hunderte an der Zahl waren es, und allesamt defekt, wie es schien. Sie bildeten ein leuchtendes Band aus graugrünem Licht vor schäbigen, in Fünfergruppen unterteilten Sesselreihen. In den Sesseln saßen Menschen und sahen gebannt in die Höhe, während aus bunten Beuteln Unmengen an Injektionslösung in ihre Venen tröpfelte. Jeder Patient schien unter seinem eigenen Monitor zu kauern, fasziniert von dem stummen, grauen Flockengestöber, das er betrachtete. Mit sehnsüchtig-apathischen Blicken starrten die Menschen auf die Mattscheiben, ohne jemals zu blinzeln und so regungslos, als seien sie selbst aus Wachs modelliert und fester Bestandteil dieser orwellschen Anlage.
    "Warum sehen sie alle auf die Monitore?", wunderte sich Ka, bemüht, in dem Gegrizzel ebenfalls etwas zu erkennen.
    "Sie warten …"
    "Der Empfang ist gestört, vermutlich infolge des Bebens. Es ist absolut nichts zu sehen. Worauf also warten sie? Auf eine Armee Fernsehmechaniker?"
    "Auf die Bilder, die verblasst sind. Auf ihre Bilder."
    "Stehen die Leute unter Drogen?" Ka schritt die Sesselreihen ab. "Werden sie mit unterschwelligen Botschaften ruhig gehalten, in so einer Art Video-Massenhypnose?"
    "Junger Mann, was reden Sie da eigentlich?", fragte die Frau kopfschüttelnd.
    Ka rieb sich die Augen. "Nichts, schon gut."
    "Dort", sagte die Frau und deutete nacheinander in drei verschiedene Richtungen. "Dort drüben. Kommen Sie, helfen Sie mir, meine Beine sind so müde …" Sie führte ihn zu einem leeren Sessel, der sich etwa dreißig Sitzplätze vom Eingang entfernt befand. "Hier ist mein Platz", bestätigte sie Kas Vermutung, wobei sie mehr mit sich selbst zu reden schien. "Und mein Fernseher …" Sie ließ sich ächzend auf dem Sessel nieder, legte den Kopf zurück und hob ihren Blick hinauf zum Monitor. Ihre Sitznachbarn, eine kränklich-hagere Frau mit dunklen Augenringen und ein untersetzter Mann mit Schnauzbart und grauen, schulterlangen Locken, nahmen keine Notiz davon. Aus Neugier folgte Ka dem Blick der Frau, doch auf ihrem Bildschirm war erwartungsgemäß nicht mehr zu sehen als auf allen anderen. Seltsamerweise besaß keiner der Monitore so etwas wie eine Programmkonsole. Ka sah sich um, in der Hoffnung, irgendwo eine Art Steuerpaneel oder zumindest Fernbedienungen auf den Schößen der Menschen oder auf dem Fußboden zu entdecken, doch das Fernsehprogramm - falls es denn ein solches geben sollte - schien aus einem separaten Raum gesteuert zu werden.
    "Ich hatte auch mal ein Bild …", sinnierte die Frau nun beinahe verträumt. "Ja, ich hatte auch eins … Doch dann ist es immer undeutlicher geworden. Als es fort war, bin ich gegangen … Ich bin rausgegangen, wissen Sie? Nach draußen …!" Sie kicherte albern.
    "Sie kommen jetzt bestimmt wieder allein zurecht", befand Ka.
    "Oh ja, natürlich", versicherte die Frau. "Besten Dank, junger Mann. Warum gehen Sie nicht auch an Ihren Platz und ruhen sich etwas aus? Dort hinten, sehen Sie?" Ihr ausgestreckter Arm wies in eine entfernte Ecke der Halle, wo inmitten des Bandes aus weißem Rauschen ein einzelner Monitor verdächtig ruhig strahlte. "Ich glaube, Sie haben sogar noch ein Bild …"
    Ka kniff die Augen zusammen und ging ein paar Schritte in die angewiesene Richtung.
    "Oh, bitte warten Sie noch", rief ihm die Frau hinterher, ohne den Blick von ihrem Bildschirm abzuwenden. "Würden Sie mir noch den Gefallen tun und unterwegs gleich einer Schwester Bescheid sagen? Es wird zwar kaum noch etwas nützen, aber ich brauche dringend einen neuen Beutel."


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