Morphogenesis

Leseprobe 3 ___________________________________________________________



Nekropalladium 1 (Zweiter Teil)

Nachdem ich mich gewaschen und die schweißdurchnässte Kleidung gewechselt hatte, bestand ich darauf, hinab in den Stollen zu gehen. Es war heller Nachmittag, mörderisch heiß und trocken. Die Sonne stand zwar nicht mehr im Zenit, aber das tat den klimatischen Bedingungen in der Reg keinen Abbruch. Die Wüstenluft war so dick, dass man sie hätte durch die Gegend schieben können. Von meinem Zelt bis zum Eingang in die Pyramide waren es gerade mal zweihundert Meter, aber der Weg führte unentwegt über Geröll bergauf. Als wir im Halbschatten des Überzeltes, das man vor dem Eingang errichtet hatte, ankamen, fühlte ich mich wie nach einem Gewaltmarsch. Meine Kehle brannte und war staubtrocken. Zudem hatte ich das Gefühl, die Sohlen meiner Schuhe seien unterwegs geschmolzen.
    Ein halbes Dutzend Arbeiter grub hier mit Pickeln und Harken am Fuß der Pyramide oder unten im Stollen. Andere hievten Eimer um Eimer mit Erdreich und Geröll aus dem Eingangsschacht. Eine Kette aus Trägern schlängelte sich den Abhang hinunter, die meisten wie Rahmed und Mohad mit Turban oder Ghutra, weiten Gewändern und blütenweißen Dishdashas. Andere, die weniger Wert auf traditionelle Kleidung legten, trugen Baseballmützen und T-Shirts. Unten im Lager durchsieben zwei Arbeiter den eintreffenden Inhalt auf mögliche Fundstücke. Alles verlief wie einstudiert, fast so, als wären diese Menschen von den Pharaonen für das Schleppen von Steinen erschaffen worden. Allerdings wäre ich noch viel zufriedener, wenn dieses Volk bei der Arbeit nicht ständig singen würde.
    Außer den Bruchstücken einer Kanope hatten wir bisher keine Artefakte im Stollen gefunden, und die Gefäßscherben waren gut und gerne sechstausend Jahre jünger als das Bauwerk selbst. Der Eingang in die Pyramide glich mehr dem einer Klufthöhle. Ein etwa anderthalb Meter hoher und einen Meter breiter Spalt fiel fast fünf Meter steil ab wie eine Rutschbahn. Von dort führte der mannshohe, teilweise noch mit Schutt gefüllte Stollen schnurgerade in die Tiefen des Bauwerks.
    Die Luft unten im Gang war anfangs so schlecht gewesen, dass die Arbeiter es nur eine Stunde am Tag im Inneren aushielten, was die Grabungen erheblich verzögert hatte. Schon nach einer halben Stunde klagten alle über derart heftige Kopfschmerzen, dass zehn Gruppen gebildet werden mussten, von denen jede nach ihrer einstündigen Grabungsschicht einen Tag Zeit hatte, sich zu erholen. Der Stickstoffgehalt im Stollen war so enorm, dass brennende Kerzen nach zwanzig Minuten erloschen. Nun tuckerte ein Kompressor außerhalb des Ganges, der über einen dicken Schlauch Frischluft in die Tiefe pumpte. Um nicht auf dem staubigen Grund der ›Rutschbahn‹ den Halt zu verlieren, führte ein Seil in die Tiefe, an dem man sich festklammern konnte, während man auf dem Hosenboden hinab glitt. Zu viert standen wir schließlich mit leistungsstarken Taschenlampen ausgerüstet in der Enge des Stollens.
    "Die Kammer ist noch unberührt", informierte mich Mohad. "Eine massive, versiegelte Tür versperrt den Eingang."
    "Ihr habt sie nicht geöffnet?"
    "Nein, alles ist noch so, wie wir es gestern vorfanden."
    Károly sagte: "Wir waren der Meinung, du solltest dabei sein, wenn wir hineingehen." Er schaltete seine Lampe an und drang in den Stollen vor.
    Ich tat es ihm gleich und folgte ihm, geehrt, bewegt und aufgeregt. Hinter mir lief Rahmed, sein Bruder bildete die Nachhut. Die Luft war trotz des eingeleiteten Sauerstoffs immer noch muffig und roch zudem nach Schimmel, Fäulnis und so etwas wie Essig oder Ameisensäure.
    "Was stinkt hier so?", fragte ich, ohne den Kopf zu heben.
    "Ammoniak", erklärte Rahmed.
    Unsere Stimmen und Schritte klangen dumpf. Ich schielte immer wieder zur Decke, ob sich in den Ritzen und Spalten irgendetwas verräterisch ringelte, konnte aber nichts entdecken.
    "Wir haben das Felsgestein mit Ammoniumchlorid abgespritzt", erklärte Rahmed, dem meine besorgten Blicke wohl nicht entgangen waren. "Hier drin kriecht bestimmt kein Wurm mehr herum."
    "Dafür hat sich Ammoniak gebildet", warf Károly ein. "Wir waren genötigt, einen der Generatoren aus der Zeltküche zu holen, um Atemluft in den Gang zu pumpen. Aber irgendwie scheinen die Wände den Sauerstoff zu absorbieren und nur das zurückzulassen, was dem Menschen schadet. So, hier wären wir!" Er hielt inne und beleuchtete eine behauene Felsplatte, die das Weiterkommen verhinderte.
    Ich zwängte mich an ihm vorbei und ließ mich mit pochendem Herzen auf die Knie nieder, um das Siegel zu betrachten. Károly, Rahmed und Mohad bildeten hinter mir eine Phalanx aus Taschenlampen, die die Dunkelheit zum Tag werden ließ. Zitternd strich ich über das Gestein, ließ meine Finger entlang der eingemeißelten Muster wandern.
    "Das sind keine Hieroglyphen", flüsterte ich. "Und auch kein Determinativ, das ich kenne. Nirgendwo kommt ein solches Symbol vor." Ich zog die Hand zurück. "Derartige Schriftzeichen habe ich nie zuvor gesehen; zu geschwungen und verschachtelt für eine Urform der Glyphen, doch auch viel zu geometrisch für das Hieratische …"
    "Es sind keine Zeichen der mir bekannten Reiche", gestand Rahmed. "Aber das Siegelbild zeigt auch kein Motiv einer mir bekannten Gottheit oder eines Pharaonengeschlechtes."
    Ich sah ihn über die Schulter hinweg an. Rahmed war eine wandelnde Datenbank, ein menschliches Bildarchiv und einer der besten Archäologen, die das Kairoer Nationalmuseum aufzubieten hatte. Wenn er sagte, dass er es nicht kannte …
    "Dann sind wir hier wohl auf etwas Neues gestoßen", vollendete Károly meine Gedanken laut.
    "Oder etwas sehr Altes", widersprach Rahmed.
    Ich musterte ihn. Sein Gesicht war angespannt, sein Blick fast furchtsam. Er hatte große Achtung vor seiner Kultur, ihrer Mythologie und den alten Traditionen, doch er fürchtete das Unbekannte, das älter war als jene Götter, die seine Ahnen angebetet hatten.
    "Es ist nicht ägyptisch", murmelte er.
    "Bitte?" Károly drängte sich ein Stück weiter nach vorne. "Sind wir denn nicht in Ägypten?"
    Rahmed schüttelte den Kopf. "Nein, Freunde. Ägypten ist überall, nur nicht hier unten."
    "Unsinn", urteilte Károly. "Vor uns prangt lediglich der Beweis, dass die Kemet-Kultur viel älter ist, als man bisher annahm."
    "Der Einflussbereich Ägyptens reichte selbst in seiner Blütezeit gerade mal zwei- bis dreihundert Kilometer weit über das Niltal hinaus in die westliche Wüste", entgegnete Rahmed, "und südlich von Theben kaum mehr als fünfzig Kilometer. Wir jedoch sind über sechshundert Kilometer vom Nil entfernt …"
    "Alles nur eine Frage des Alters", konterte Károly. "Wenn man die damalige Stellung der Erdachse zugrunde legt, zeigt ein Luftschacht der Cheops-Pyramide in seiner Verlängerung genau auf das Sternbild des Osiris - und zwar so wie es vor knapp elftausend Jahren ausgesehen hat!"
    "Nicht schon wieder diese Geschichte!", stöhnte ich.
    "Und vor ebenfalls elftausend Jahren", zeigte sich Károly von meinem Protest unbeeindruckt, "blickte der Sphinx auf sein eigenes Sternbild, das des Löwen."
    "Zweifellos", seufzte Rahmed. "Aber das bedeutet noch lange nicht, dass Giseh sechstausend Jahre älter ist als die Pharaonen."
    "Warum nicht? Die Kerle haben sich in den Pyramiden schließlich nur bestatten lassen. Vielleicht übernahmen sie aus Bequemlichkeit das Erbe einer viel älteren Hochkultur."
    "Weißt du, was der Generalsekretär der Antikenverwaltung mit mir macht, wenn ich ihm diesen Sophismus unter die Nase reibe?"
    "Wir stehen in einem ägyptischen Grabbau!", beharrte Károly. "Zu Beginn der Jungsteinzeit verehrten eure Vorfahren fremde Götter und vielleicht sogar schon eine Art Pharaonengeschlecht, das sich in sechseckigen Pyramiden bestatten ließ." Er blickte erwartungsvoll in die Runde. "Wir schreiben hier die Geschichte des Neolithikums neu!"
    Ich warf ihm einen knappen Blick zu, dann studierte ich wieder das geheimnisvolle Relief. Ein Doppelkranz aus eigenartigen Schriftzeichen, die nicht das Geringste mit vergleichsweise grobschlächtigen Hieroglyphen gemein hatten, umgab ein Mischwesen, das einen Gott oder ein Tier darstellen mochte. Ein aufrecht gehendes Krokodil vielleicht, einen Drachen oder einen - Saurier?
    Ich schluckte. Hatten die Erbauer dieser Anlage noch Urzeitreptilien gekannt?
    "Meiner Meinung nach ist es eine frühe bildhafte Darstellung der Göttin Taweret", mutmaßte Mohad. "Schon die Tatsache, dass es sich bei ihr um eine sehr alte, vorgeschichtliche Gottheit handelt …"
    "Eine Gottheit des Niltals!", warf ich ein.
    "… lässt auf ein Taweret-Abbild schließen." Der füllige Mann funkelte mich an.
    Rahmed schürzte die Unterlippe, ein deutliches Zeichen, dass er vom Standpunkt seines Bruders nicht überzeugt war. "Taweret ist ein Mischwesen aus Nilpferd, schwangerer Frau, Krokodil und Löwe", erklärte er. "Diese Kreatur hier sieht allerhöchstens aus wie ein Hybrid aus mehreren Reptilien; Echse und Schlange."
    Ich strich mit den Fingerkuppen über das Relief. Das fettleibige Wesen, das in der einen Klaue einen gewellten Stab oder eine zweite, kleinere Schlange trug, und in der anderen etwas, das aussah wie ein tragbarer Fernseher, ähnelte einem Theropoden mit Schlangenhals und ungewöhnlich langen Vorderarmen. Bei dem Gegenstand, den es trug, konnte es sich auch um eine Lade oder eine Schrifttafel handeln, die etwas zu dick dargestellt war. Oder ein … - ich sah genauer hin - ein Buch?!
    "Ausgeschlossen!", protestierte Rahmed, als ich meine Vermutung aussprach. "Ich glaube, euch Europäern tut die Atmosphäre hier unten nicht gut. Bücher, die von Sauriern getragen werden, ägyptische Pyramiden, die nicht ägyptisch sind. Womöglich erwartet ihr noch, dass wir hinter der Tür eine Sternwarte mit Spiegelteleskop entdecken."
    "Warum eigentlich nicht?" schnappte Károly. "Ich frage mich, wieso du dich eigentlich so aufregst. Hast du Angst davor, dein Weltbild korrigieren zu müssen?"
    Einige Zeit lang hörte man nur das gleichmäßige Zischen des Luftschlauches, der irgendwo hinter uns sein kostbares Atemgut in den Stollen entließ. Der Schweiß rann in Strömen über unsere Körper, denn zum stickigen Klima im Gang gesellte sich die heiße Wüstenluft, die vom Kompressor heruntergepumpt wurde.
    "Was ist mit den Atemgeräten?", fiel mir ein.
    "Sie liegen oben", antwortete Mohad.
    "Geh sie bitte holen! Die Tür wird nicht aufgebrochen, ehe nicht für jeden eine Maske bereit liegt."
    "Wir sollten alle mit zurück", meinte Rahmed. "Mein Bruder kann unmöglich vier Sauerstofflaschen tragen. Zudem liegen alle Werkzeuge am Ende der Rutsche."

Nachdem sich jeder von uns ein Atemgerät über die Schulter gehängt hatte, begaben wir uns mit Hämmern, Meißeln, einer handlichen Spitzhacke und einem Eimer voll feuchter Tonerde zur Tür zurück.
    Rahmed bestand darauf, ein traditionelles Gebet zu sprechen, bevor wir mit der Arbeit begannen. Ich beherrschte seinen altägyptischen Dialekt nicht gut genug, um es zu verstehen, meinte aber, die Namen Anubis, Osiris und Apophis herauszuhören. Mein Blick klebte während der gemurmelten Oration auf dem Siegel. Wenn der Stickstoffgehalt bereits hier im Gang in derartiger Konzentration auftrat, war die Luft im dahinter liegenden Raum wahrscheinlich nur bedingt atembar. Womöglich herrschte in der Grabkammer - falls es denn eine war - ein derart ungesundes Gasgemisch, dass wir der Reihe nach umfielen, ehe wir wussten, wie uns geschah.
    In erster Linie galt unsere Vorsichtsmaßnahme, Sauerstoffmasken anzulegen, einer weitaus heimtückischeren Gefahr; einem Fluch der Pharaonen mit dem klingenden Namen aspergillus niger. Es war ein Schimmelpilz, dessen Sporen bis zu viertausend Jahre überlebten und die einzuatmen tödliche Folgen haben konnte, sofern der Pilz in der Lunge zu wuchern begann. Nebenbei führte er zu Koptischer Krätze, einem äußerst schmerzhaften Ausschlag.
    Aus Erfahrung vermutete ich, dass aufgrund von Mikroben in der Kammer jenseits der Tür ein geringer Überdruck herrschte. Da Schimmelpilzsporen extrem leicht sind und vom kleinsten Luftzug in die Atemluft geweht werden, würde uns ein wahrer Orkan von Sporen entgegenschlagen, sobald wir ein Loch in den Fels gestemmt hätten.
    Gerüstet wie für einen Giftgasangriff, kauerten wir vor dem Siegel und zogen mit Ölkreide zwei Handbreiten über dem Relief eine Markierungslinie. Dann überdeckten wir es mit Tonerde und schützten es zusätzlich mit Holzlatten vor herunterfallenden Gesteinsbrocken. Schließlich setzten Rahmed und Károly Hammer und Meißel an und begannen das obere Drittel der Wand zu bearbeiten. Das Gestein schien im Lauf der Jahrtausende porös geworden zu sein, denn mit nur wenigen Schlägen hatte Rahmed eine ansehnliche Mulde herausgebrochen. Während er sich mit Károly durch den Fels arbeitete, sorgte ich mit Mohad für die Beleuchtung. Wie Pistolenschüsse knallten die Hammerschläge durch den Stollen, und unsere Ohren waren von dem Gedröhne bald nahezu taub.
    "Sobald ihr den geringsten Luftzug spürt, gebt ihr Bescheid", warnte ich. Jeder von uns trug eine leichte Atemschutzmaske, die die staubige Luft und die Sporen filterte. Sollte sich der Raum hinter der Tür als begehbar erweisen, würden wir für eine erste Erkundung die schwereren Sauerstoffmasken anziehen, die wir in einigen Metern Entfernung deponiert hatten.
    Die Scheintür maß etwa einhundertzwanzig Zentimeter in der Breite und knapp zwei Meter in der Höhe. Unklar blieb, wie tief sie noch in den Untergrund reichte. Das Siegel befand sich knapp über dem Boden. Ging ich davon aus, dass es ursprünglich in Kopfhöhe angebracht worden war, dann steckte die Wand noch ein gutes Stück im Schutt.
    Aber von wessen Kopfhöhe sollte ich ausgehen? Von der eines Menschen, der vor zehn- oder zwanzigtausend Jahren gelebt hatte und annähernd hundertfünfzig Zentimeter groß war? Oder von der eines großen, aufrecht gehenden Reptils? Vielleicht war der Stollen ursprünglich abschüssig angelegt worden und hier an seinem Ende meterhoch mit Sand und Geröll gefüllt. Vielleicht befanden wir uns dicht unter der Decke, und hinter der Tür ging es erst einmal ein Dutzend Meter bergab bis zum eigentlichen Raumboden; in eine Kammer, hoch genug für einen Saurier …
    Vielleicht geht gerade deine Phantasie mit dir durch, Krispin!
    "Ich glaube, ich habe es gleich geschafft!", rief Rahmed.
    "Gut, dann hört auf", bestimmte ich.
    Ein leises, schneidendes Zischen drang aus Rahmeds Mulde, als er seinen Meißel zurückzog. Es klang, als ob man auf den Knopf einer Spraydose drückte.
    "Hört ihr das?", fragte Mohad. In selben Moment ertönte ein trockener Knall, und ein feiner Riss verlief senkrecht durch die Tür bis hinab zum Siegel. Einen Lidschlag später folgte ein eigenartiges Geräusch, das sofort von einem gewaltigen Brausen abgelöst wurde. In der Mulde, die Rahmed geschlagen hatte, klaffte unvermittelt ein mehr als handtellergroßes Loch. Der Meißel, der mindestens vier Pfund wiegen musste, rutschte Rahmed aus der Hand, schoss durch die neu entstandene Öffnung und war verschwunden.
    "Was zum …?", setzte Károly an. Die restlichen Worte wurden ihm förmlich von den Lippen gerissen. Sein Gesicht lief krebsrot an, seine Augäpfel traten hervor wie bei einem Frosch. Wind zerwühlte unsere Haare, die in Richtung des Durchbruchs geweht wurden. Meine Trommelfelle begannen zu klingeln, während die Luft um uns herum schlagartig dünner wurde. Der Schal des Turbans, den Rahmed sich locker um den Hals gewickelt hatte, wurde von dem Sog erfasst und in das Loch gesaugt. Rahmed stieß einen ungläubigen Laut aus, wurde nach vorne gerissen und schlug mit dem Gesicht genau in die Mulde. Ein grauenvolles Geräusch aus dem Inneren seines Körpers ertönte, die Gummiträger seiner Atemschutzmaske rissen entzwei, dann zuckte er noch einmal und erschlaffte.
    Mohad stürzte mit einem Schrei heran, um seinem Bruder zurückzuziehen, doch dieser klebte an der Tür, als sei sein Gesicht mit dem Loch, das sich aufgetan hatte, verwachsen. Ich wollte ihn daran hindern, ihm zuschreien, dass Rahmed unser Leben schützte, solange sein Körper dort hing, aber ich war durch den Schock wie gelähmt. Trotz der gewaltigen Kräfte, die an Rahmeds Gesicht zerrten, schaffte es Mohad, ihn von der Wand wegzureißen. Das hieß: Er riss das zurück, was von Rahmed übrig geblieben war. Etwas Langes, Bleiches wurde mit ihm aus der Öffnung gezogen. Rahmeds Körper sank zu Boden wie eine schlaffe Luftmatratze, und sein Bruder drehte ihn lamentierend auf den Rücken. Im nächsten Augenblick schrie er wie von Sinnen, und auch Károly konnte sich eines entsetzten Aufschreis nicht erwehren. Eine augenlose, furchtbar entstellte Fratze starrte uns an. Die Haut sah aus wie verzogene Knetmasse, als hätte sie sich vom Knochen gelöst. Aus Rahmeds Mund, einem blutigen Krater zwischen aufgedunsenen Lippen, stieg neben der weit herausquellenden Zunge ein glitschiges, rot-weißes Etwas zu der Öffnung in der Tür empor und entschwand in die Finsternis dahinter. Es war wahrscheinlich das Einzige, was sich noch im Körper des Unglücklichen befand, und das auch nur, weil es mit seinem Rektum verbunden war: Rahmeds Darm. Alle restlichen inneren Organe mussten von jener immensen Kraft, die hinter der Tür herrschte, aus seinem Leib herausgerissen worden sein - dem unbarmherzigen Sog eines Vakuums!
    "Zurück zum Eingang!", japste ich. "Schnell!"
    Károly war aufgesprungen und hatte bereits einige Meter gewonnen, indes ich Mohad, der vor Entsetzen und Verzweiflung völlig benommen war, mit Gewalt von Rahmeds Leiche fortzerren musste. Atemlos stolperten und krochen wir durch den Stollen, während hinter uns das schneidende Zischen und Heulen weiterhin den Gang erfüllte. Heiße, staubige Luft schlug uns entgegen wie ein Sturmwind.
    Ein Vakuum … Wie hätte ich das ahnen sollen? Was, um alles in der Welt, befand sich hinter dieser Wand?
    Unterhalb des Einganges blieben wir keuchend liegen. Die heiße Wüstenluft wehte heftig in die enge Spalte, und wir waren gezwungen, unsere Gesichter vor dem stechenden Flugsand zu schützen, den der Luftsog mit sich in die Tiefe riss.
    Offensichtlich hatte man auch im Lager gemerkt, dass im Stollen etwas nicht mit rechten Dingen zuging. Vor dem Eingang sammelte sich eine Traube von Arbeitern und starrte mit einer Mischung aus Neugier und Furcht zu uns herab. Károly war der erste, der sich die ›Rutschbahn‹ empor hangelte, Mohad musste wegen des Schocks mehr gezogen werden, als dass er zu Klettern imstande war. Ich selbst stieg als letzter empor.



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