Morphogenesis

Leseprobe 2 ___________________________________________________________



Nekropalladium 1 (Erster Teil)

Ich bäumte mich auf und rang nach Luft. Quälend langsam ließ der stechende Schmerz in meiner Brust wieder nach. Eine Weile blieb ich reglos liegen, lauschte dem Gesang der Arbeiter und dem vertrauten Geräusch der Schaufeln und Spitzhacken, dann öffnete ich die Augen. Ein orangerotes Glühen fraß sich durch meine Sehnerven und explodierte in meinem Hinterkopf. Stöhnend fuhr ich mir mit der Hand über das Gesicht und massierte die geschlossenen Lider. Als ich die Augen vorsichtig ein zweites Mal öffnete, war das Licht nicht mehr ganz so grell und ließ einzelne Formen und Umrisse erkennen.
    Es war hell draußen. Ich lag in einem geräumigen Zelt, das von der Wüstensonne in einen Backofen verwandelt wurde, und wünschte mir nichts sehnlicher als einen Schluck Eiswasser. Alles an mir klebte vor Schweiß. Blinzelnd sah ich mich um und erkannte drei weitere Personen, die mich wachsam beobachteten.
    "Was ist los?", krächzte ich. "Was schaut ihr mich so an?" Meine Stimme klang, als hätte ich einen Werkzeugkasten verschluckt. Ich schaute schläfrig in die Runde. Károly, mein rumänischer Kollege, und Rahmed, der Beauftragte des ägyptischen Nationalmuseums, saßen auf Klapphockern neben meinem Bett, während Mohad, Rahmeds Bruder, mit seiner Leibesfülle den Arbeitstisch im Hintergrund des Zeltes belastete. Er warf unablässig einen kleinen, hellen Gegenstand in die Höhe und fing ihn blind wieder auf, wobei er mich aufmerksam musterte. Als mein Blickfeld sich endlich klärte, erkannte ich in dem Ding, das von Mohad auf seine Flugtauglichkeit geprüft wurde, einen faustgroßen Uräuskopf, der mindestens das Dreifache seines Alters in Pfund kosten musste. Britische Pfund wohlgemerkt, nicht ägyptische.
    Die Schwäche in meinen Gliedern blieb, doch die Müdigkeit war schlagartig verflogen. "Um Himmels Willen, leg das sofort wieder hin!", rief ich (eine schamlose Übertreibung angesichts der Misstöne, die meine Stimmbänder erzeugten) und streckte die Hand aus, als könnte ich von meiner Liegestätte aus den drohenden Fall des Artefakts verhindern.
    "Ruhig Blut, Hype." Károly reichte mir eine Flasche mit Wasser. "Dieser alte Plunder ist nichts im Vergleich zu dem, was wir gefunden haben."
    Mein ausgestreckter Zeigefinger wanderte von Mohad auf meinen Kollegen. "Nenn' mich nicht Hype!", hustete ich. "Das hab' ich dir schon tausendmal gesagt!"
    "Ist wieder ganz der Alte", kommentierte Rahmed in seiner typischen gleichgültigen Art. "Kaum von den Toten auferstanden, und schon auf Hundertachtzig."
    Ich nahm einen tiefen Schluck aus der Feldflasche und sank erschöpft auf die Matratze zurück. ›Hype‹ war Károlys albernes Kürzel für Hippolyt. Er hatte es bereits im Lager eingeführt, als er mich am zweiten Tag der Grabungen von einer nahen Anhöhe herab aus meinem Zelt gerufen hatte - über das ganze Camp hinweg und für alle hörbar. Ein Teil der Einheimischen, die unsere Zeltstadt bevölkerten, war der englischen Sprache mächtig, und so war ›Hype‹ mit unverhohlener Heiterkeit in den allgemeinen Wortschatz aufgenommen worden. Ihm hatte ich es zudem zu verdanken, dass ich seit über sechs Wochen in keinem vernünftigen Bett mehr geschlafen hatte.
    Als Károly mich vor sieben Monaten mit gestochen scharfen Luftaufnahmen aufsuchte, um mir weiszumachen, bei dem darauf zu erkennenden Objekt handele es sich um eine Pyramide, war ich geneigt, seine Zurechnungsfähigkeit in Frage zu stellen. Es war, als käme dieser schnauzbärtige Wicht fünfhundert Jahre nach Kopernikus mit einer Satellitenaufnahme in mein Haus, um zu behaupten, die Erde sei doch eine Scheibe. Obwohl die Aufnahmen, die er vor mir ausbreitete, viel Spielraum für Spekulationen boten (was jedoch mehr an den Nachwehen einer durchzechten Nacht lag), verspürte ich große Lust, ihn vor lauter Empörung über diese Kopfgeburt aus der Wohnung zu werfen. Nur die Tatsache, dass Károly extra aus Rumänien angereist war, um mir das Bildmaterial zu präsentieren, ließ mich zumindest vor körperlicher Gewalt zurückschrecken. Hinzu kam, dass ich mich am Abend zuvor dermaßen zugesoffen hatte, dass jedes zu laute Wort wie Hörnerschall in meinem Schädel dröhnte. Kurz gesagt: Károly hatte sich für seinen Besuch und seine Pyramiden-Spinnereien den völlig falschen Tag ausgesucht. Also reservierte ich ihm ein Hotelzimmer in der Stadt, empfahl ihm eine Bootsfahrt auf dem River Clyde und verabredete mich für den Nachmittag des nächsten Tages mit ihm.
    Károly fiel in den folgenden vierundzwanzig Stunden weder dem schottischen Essen zum Opfer noch wurde er wegen Unzurechnungsfähigkeit verhaftet. Zur verabredeten Stunde stand er vor meiner Haustür, und die Luftaufnahmen hatte er ebenfalls wieder dabei. Kein Zweifel, er meinte es ernst!
    Sichtlich nüchterner als am Vortag, erklärte ich mich bereit, das Bildmaterial noch einmal zu studieren und mit Károly über eine von ihm angestrebte Ausgrabung zu diskutieren. Ich gab dem Fotografen eine Chance, mich zu überzeugen.
    Auf den zweiten Blick ließen die Aufnahmen tatsächlich kühne Vermutungen zu, doch diese waren angesichts einer so enigmatischen Kultur wie der altägyptischen derart absonderlich, dass ich mich erst nach tagelangem Abwägen überreden ließ, die Mittel für eine mehrwöchige Ausgrabung zur Verfügung zu stellen, um dem Phänomen auf den Grund zu gehen. Károly war damit einverstanden, dass ich als Finanzier das Projekt und er die Grabungen leitete.
    Es folgten vier Monate der Vorbereitung und Hunderte von Telefonaten, die allein schon den Kosten eines mehrwöchigen Karibikurlaubs entsprachen. Die verdächtige Felsformation befand sich am Rande des Djebel Uweinat, einem Doppelbergmassiv im äußersten Südwesten Ägyptens. Sie erhob sich drei Kilometer von seiner Ostflanke entfernt beinahe achtzig Meter hoch über die Reg, eine brettebene, endlos erscheinende Geröllwüste, die im Norden vom großen Sandsee begrenzt wurde. Unsere Zeltstadt, die wir wegen der mörderischen Tageshitze über Nacht errichteten, lag unmittelbar an den Grenzen zu Libyen und dem Sudan und wurde während der ersten Grabungswoche fast täglich von Militärmaschinen überflogen oder misstrauischen Patrouillen der beiden Anrainerstaaten besucht. Beide Länder verschoben in diesen Regionen ihre Grenzen gerne einmal um ein paar Kilometer nach Norden oder Osten. Zu unserer Sicherheit bewachten zwei Dutzend bewaffnete Posten das Lager rund um die Uhr. Die Libyer bezogen auf einem Höhenzug, der ein paar Kilometer weiter westlich lag, ebenfalls Stellung und beobachteten von dort aus unser Treiben.
    Nach tagelangen Berechnungen und Messungen, ob wir nicht doch von einer Laune der Natur, womöglich einer von Wind und Sand verformten Bergkuppe, zum Narren gehalten worden waren, bestand kein Zweifel mehr: Unter der meterhohen Erosionsschicht befanden sich tatsächlich die Reste eine Pyramide - doch sie besaß nicht vier Seiten, sondern sechs!
    Dass das im Lauf der Jahrtausende stark verwitterte Bauwerk erst jetzt entdeckt wurde, war kaum verwunderlich, denn es erhob sich nicht - wie die Pyramiden von Meroe, Nuri, Gizeh oder jene am Djebel Barkal - im Osten des Landes, sondern inmitten der Libyschen Wüste, über sechshundert Kilometer vom lebensspendenden Nil und den alten Kulturzentren entfernt. Diese Tatsache war so abnorm, dass ich sie erst akzeptierte, als die Beweise dafür unumstößlich auf meinem Arbeitstisch lagen - als Seitenansicht, Draufsicht und zusätzliche spekulative Risszeichnung.
    In gewissem Sinne ähnelte das, was von der Konstruktion übrig war, den Resten der Teti- oder der Hauwara-Pyramide: Ein großer runder Schutthügel, den ein Laie nicht einmal dann als Stufenbau identifizieren könnte, wenn Osiris ihn persönlich darauf aufmerksam machen würde. Dass Károly ihn als solchen entlarvt hatte, verdankten wir den NASA-Messdaten der Shuttle Radar Topography Mission.
    Eine Pyramide, die mit der Spitze nach unten im Boden steckt, hätte ich eher anerkannt als ein Bauwerk wie dieses. Seit undenklichen Zeiten hatten die alten Ägypter ein Quadrat oder Rechteck zur Basis genommen, doch niemals ein Hexagon. Selbst das Weltbild dieses Volkes war das eines flachen Rechtecks, welches vom Nil durchflossen wurde, und an dessen vier Kanten sich massive Pfeiler befanden, die die (natürlich rechteckige) Himmelsdecke trugen.
    Zuerst vermuteten wir, dass das Fundament der Pyramide ursprünglich zwanzig, wenn nicht sogar dreißig Meter tiefer lag und im Laufe der Jahrtausende vom Wüstensand verschluckt wurde wie einst der Sphinx von Gizeh. Die Georadar-Messungen ergaben jedoch, dass ihre Struktur kaum mehr als acht Meter tief in den Untergrund reichte. Die herrschende Trockenheit und das fast zweitausend Meter hohe Bergmassiv des Djebel Uweinat, dessen Flanken die starken Westwinde abhielt, hatten das Bauwerk weitgehend davor bewahrt, unter Flug- und Schwemmsand begraben zu werden.
    Am Fuß der nach Osten ausgerichteten Pyramidenseite hatten die Messgeräte zudem einen spaltartigen Einschnitt unter dem Erdreich ausgemacht, der in einem Meter Tiefe begann und sich bis zum Baugrund auf fast anderthalb Meter Breite weitete. Flankiert wurde er von zwei schmalen, senkrechten Vorbauten, die wir für die Säulen eines Pylons hielten.
    Elf Tage dauerte es, bis wir den Eingangsbereich freigelegt hatten. Wir hatten gehofft, dass die Pilaster mit Inschriften versehen wären, die uns helfen könnten, einen Teil der Geheimnisse um die Erbauer der Pyramide zu lüften, doch wir wurden enttäuscht. Falls sich einst Schriftzeichen oder Gravuren auf den übermannshohen Scheinsäulen befunden hatten, waren sie von Wind und Sand abgeschliffen oder von Menschenhand absichtlich entfernt worden - lange, bevor die Wüste den Eingangsbereich verschluckt hatte.
    Die Entdeckung, dass beide Pilaster hohl waren, sorgte für die nächste große Aufregung im Lager, doch als was sie sich letztlich entpuppten, verschlug uns allen die Sprache. Die Vorbauten, die wir für Pylonsäulen gehalten hatten, waren primitive, aufrecht stehende Steinsarkophage! Jeder von ihnen beherbergte einen mumifizierten Wächter - aufrecht stehend bestattet, mit einer bronzenen Lanze in den zusammengeschnürten Händen. Die Pyloren waren weder bandagiert noch mit wertvollen Accessoires geschmückt, sondern nur einbalsamiert und in einer schlichten, leidlich gut erhaltenen Uniform beigesetzt worden, die aussah, als sei sie aus Krokodilsleder gefertigt. Die skelettierten Schädel der Torwächter waren nach hinten gefallen, ihre Unterkiefer wie zu einem letzten Schrei herabgesunken - und in der Kieferhöhle jedes Toten ruhte ein steinerner Uräuskopf.
    Die ägyptische Antikenverwaltung ordnete an, die Mumien zur Untersuchung und Altersbestimmung umgehend nach Assuan zu überführen. Zudem stellte man uns - anscheinend hellhörig geworden - Rahmed Hanzah zur Seite. Er sollte von nun an die Grabungen mit beaufsichtigen und dem Kultusministerium über alle neuen archäologischen Erkenntnisse Bericht erstatten. Zum Glück kannte ich Rahmed und seinen Bruder bereits seit Jahren und wusste, dass er die ihm von der Antikenverwaltung in die Hand gegebenen Zügel nicht zu straff anziehen würde.
    Als wir bereits glaubten, gegen weitere Sensationen gefeit zu sein, erhielten wir das Ergebnis der Radiokarbon-Analyse. Laut C14-Untersuchung betrug das Alter der bestatteten Wächter mehr als zehntausend Jahre! Radiometrische Messungen bestätigten eine Datierung ihrer Beisetzung um das Jahr 8200 vor Christus. Die Pyramide war somit über fünftausend Jahre älter als der Stufenbau von Sakkara - wobei nicht auszuschließen war, dass ihr Bau noch früher stattgefunden hatte.
    Károly platzte schier vor Berufsstolz. Seinem Instinkt war es zu verdanken gewesen, dass wir das bislang älteste Steinbauwerk der Menschheit entdeckt hatten. Während er mit Rahmed und den Arbeitern abends eine kleine, improvisierte Feier veranstaltete, hockte ich ein paar hundert Meter vom Lager entfernt mit einer Flasche Whisky auf einer Anhöhe und zählte weiße Mäuse. Seit die Ausgrabungen begonnen hatten, zerrte dieses steinerne Unding dort draußen an meinen Nerven, und die Anspannung verlangte immer öfter danach, sich Luft zu machen. Das war der Grund, weshalb ich so gereizt war und die Arbeiter den Namen ›Hype‹ ausgesprochen passend fanden.
    Die nächste Überraschung erwartete uns im Inneren der Pyramide: Nachdem wir den Eingangsschacht von Sand und Geröll befreit hatten, stießen wir in einer Tiefe von sechs Metern auf einen horizontalen, mit Schutt und Kies gefüllten Gang, der ins Innere des Bauwerks führte. Seltsamerweise schien er nicht auf natürliche Weise von Flugsand, angeschwemmtem Geröll und herabgestürzten Felsen verschüttet worden zu sein. Die Decke war weitgehend intakt und der Stollen zu lang, um es dem Wind zu ermöglichen, Sand bis in die hintersten Winkel zu treiben. Aus einem noch unerfindlichen Grund schien der Gang vor Jahrtausenden absichtlich aufgefüllt worden zu sein.
    Gesteinsproben aus dem Inneren machten deutlich, dass das Bauwerk in Wirklichkeit nur eine ›halbe‹ Pyramide war. Während die Steinquader der äußeren Hülle aus nubischem Sandstein gehauen waren, bestand ihr Kern aus massivem, wasserundurchlässigem Vulkangestein. Den Gang, der ins Innere führte, hatte man bereits nach wenigen, noch von Sandsteinmauern gesäumten Metern ins massive Felsgestein getrieben. Es wirkte fast, als hätten die Erbauer sich die Mühe ersparen wollen, eine komplette Pyramide vom Fundament bis zur Spitze zu errichten und stattdessen ›nur‹ einen kleinen, erloschenen Vulkankegel verkleidet. Sollte diese Hypothese zutreffen, konnte sie zumindest die für ein solches Unterfangen geeignetere Sechseck-Form des Bauwerks erklären.
    Ein Vulkan in dieser Gegend war keinesfalls etwas Besonderes. Der gesamte Djebel Uweinat war das Resultat vulkanischer Aktivität, wie auch der ursprüngliche Name des Bergmassivs verdeutlicht: Djebel Nari - Feuerberg. Südöstlich des Gilf Kebir erheben sich die Eight Bells und die Clayton-Krater. Eine Fülle von Felsgravuren in den Höhlen des Wadi Surah und des Wadi Talh beweisen, dass die Region schon zur Zeit der Erbauung der Pyramide fruchtbar und von Menschen bevölkert war. Vor sechs- bis zwölftausend Jahren gab es in den Tälern am Fuße des Gilf Kebir große Seen, und viele Felszeichnungen zeigen Tiere und jagende, tanzende und schwimmende Gestalten. Im Inneren der Clayton-Krater fanden sich zudem zahlreiche Steinkreise, die von der Wissenschaft bisher noch nicht zeitlich eingeordnet werden konnten. Womöglich stammten sie von demselben rätselhaften Volk, das einst die Pyramide über dem erloschenen Vulkankegel errichtet hatte.
    Während Károly, Rahmed und ich bemüht waren, irgendwo im Inneren des Bauwerks eine Antwort auf unsere Fragen zu finden, ging es mit meiner Gesundheit plötzlich rapide bergab. Es begann mit fürchterlichen Nacken- und Kopfschmerzen, dann folgte das Fieber. Das letzte, an das ich mich erinnerte, waren Satzfetzen einer Unterhaltung zwischen Károly und Rahmed, wie man am Geschicktesten einen Deckenversturz abtragen konnte, der dreißig Meter hinter dem Eingang den Stollen blockierte.

"Wie fühlst du dich?", fragte Mohad, nachdem ich die Augen wieder aufgeschlagen und ausgiebig gehustet hatte.
    "Gut."
    "Gut? Bis heute morgen glaubten wir, du würdest jeden Moment das Zeitliche segnen."
    "Es geht mir gut", log ich. "Ehrlich." In Wirklichkeit fühlte ich mich, als hätte man mich einhundert Kilometer durch die Wüste geritten. "Wie lange war ich weg?"
    Károly zögerte, dann sagte er: "Vier Tage."
    "Vier Tage …?" Ich sah alle der Reihe nach an.
    "Und Nächte", ergänzte Mohad.
    "Dein Fieber war so hoch, dass wir dir nachts unseren Kaffee auf den Bauch gestellt haben, damit er nicht kalt wird", grinste Károly. "Du hättest mal sehen sollen, wie du geleuchtet hast, wenn man dich durch die Infrarotkamera betrachtete. Ich sag dir, das war extraterrestrisch!"
    "Sehr witzig." Ich setzte mich erneut auf, ohne dass mich jemand daran hinderte. "Mann, hab' ich vielleicht einen Scheiß geträumt … Was ist überhaupt passiert?"
    "Du bist unten im Stollen auf einmal umgekippt", erklärte Rahmed.
    Sein Bruder legte den Uräuskopf beiseite, rutschte vom erleichtert ächzenden Tisch und kam herüber. "Zuerst glaubten wir, es läge am Stickstoff, und du bräuchtest nur etwas frische Luft. Später, als das Fieber kam, dachten wir, du hättest vielleicht etwas von den giftigen Pilzen abgekriegt, die die Stollenwände bedecken. Dann operierte unser gelobter Feldarzt das hier aus deinem Nacken." Er griff neben sich in ein Sideboard und holte einen verschlossenen Glasbehälter heraus, den er mir vors Gesicht hielt. Er war zu drei Vierteln mit einer gelblichen Flüssigkeit gefüllt. In ihr schwamm ein dünner, fingerlanger Wurm.
    Falls ich nicht bereits bleich war, dann wurde ich es jetzt. "Das … das ist nicht euer Ernst …" Ich schluckte. "Ihr wollt mich auf den Arm nehmen, oder?"
    "Tut mir leid, Hype, aber dieser niedliche Kerl hatte sich in deinem Fleisch einquartiert. Es war kein Wespenstich, wie du dachtest, sondern ein Parasit." Károlys Gesicht war ernst, nicht die geringste Spur von Humor lag in seinen Augen.
    "Du kannst Re danken, dass du noch am Leben bist", übernahm Rahmed das Wort. "Viele Archäologen und Grabräuber sind nicht mehr aufgewacht. Sehr viele …"
    Ich starrte den toten Wurm an und strich über die noch immer schmerzende Schwellung an meinem Genick, von der ich angenommen hatte, sie rühre vom Stich einer Sandwespe her. "Was ist das?"
    "Dracuncul peroria", erklärte Mohad. Er stellte das Gefäß ins Sideboard zurück. "Seine Drüsen sind giftig. Wahrscheinlich hast du mit dem Kopf die Stollendecke berührt und ihn einfach mitgerissen. Oder er hat dich aus ein paar Metern Entfernung angesprungen. Wer weiß, wozu diese Viecher fähig sind …"
    "Natürlich." Ich versuchte, auf die Beine zu kommen. Károly stützte mich und bedachte mich mit einem tadelnden Blick. Ich ignorierte ihn. Vier Tage in der Horizontalen waren wirklich ausreichend. Ein Schwindelanfall, der mich in die Knie sacken ließ, legte sich nach wenigen Sekunden. Dann stand ich; unsicher zwar, aber ich stand. Unter aufmerksamen Blicken schlurfte ich zum Arbeitstisch, begutachtete den Uräuskopf, der das steinerne Haupt einer Kobra darstellte, und legte ihn schließlich in eine mit Tuch gepolsterte Box, wo er wahrscheinlich hingehörte. Schließlich streckte ich mich ausgiebig und drehte mich um. "Was, sagtet ihr, habt ihr gefunden?"
    Mohad warf einen bedeutungsvollen Blick zu Károly und sagte: "Die Grabkammer - oder was auch immer …"


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