Morphogenesis

Leseprobe 1 ___________________________________________________________



Prolog

Dicke graue Wolken hingen über der Stadt wie Nebel über erstarrter Lava. Die Gebäude bedeckten den Planeten von Horizont zu Horizont, eine Weltenbrand-Flechte aus schwelenden Häusergerippen, in denen sich die Toten eingenistet hatten.
    Ich saß auf den Zinnen des Turms und ließ meinen Blick über Häuserruinen und verfallene Straßenschluchten schweifen. Von hier oben wirkten die umherirrenden Bewohner der Stadt bedeutungslos winzig. Sie versteckten sich im Schatten der Mauern, verzerrte Karikaturen menschlichen Lebens, und starrten aus der Dunkelheit zu mir empor. Hunderte glühender Augen klebten an mir, und ich wünschte, ein Mammutbein heben und die ameisengroßen Geschöpfe unter meiner Fußsohle zermalmen zu können. Der Wind trug ihre Gesänge zu mir herauf, ein tausendstimmiges Lied in einer uralten Sprache:

        Siehe, es lebt Kematef, der Fürst!
        Der vom Himmel stürzte und seine Zeit vollendet hat.
        Mit der Krone aus Stein auf seinem Haupt
        und dem Zepter aus Staub in seiner Hand


Ich schmeckte das Aroma der Tiefe, ihren Gestank aus siedendem Schweiß und verbrannter Haut, aus Talg und Napalm, Salz und Schwefel. Als ich die Stimmen der Bewohner nicht mehr ertrug, breitete ich meine Schwingen aus und stürzte auf sie herab. Dicht über ihren Köpfen ging ich in einen Gleitflug über, raste durch die Häuserschluchten, glitt tiefer und tiefer über den Boden dahin, dem immer greller werdenden Licht entgegen. Dann erscholl das Quietschen über den Asphalt radierender Reifen, das laute Bersten von Blech. Das Kreischen der Bremsen schnitt ebenso schmerzhaft in mein Bewusstsein wie der unbarmherzige Schlag, der meinen Körper erschütterte und durch die glutwarme Luft schleuderte …

Mit einem stummen Schrei auf den Lippen schreckte ich auf. Das Echo des Aufpralls hallte in mir nach. Ich schlug meinen Kopf gegen die Wand, fester und fester, bis ich das Gefühl hatte, den Traum aus meinem Unterbewusstsein geschmettert zu haben. Nur widerwillig verging der Schmerz, verkroch sich hinter der Realität und wich düsterem Zwielicht. Am Ende kauerte ich mich in einer Ecke des Zimmers zusammen und lauerte auf Schritte und Stimmen.
    Lange war außer dem immerwährenden Heulen des Windes nichts zu hören, dann drangen dumpfe Schläge an meine Ohren. Ich packte die rostige Eisenstange, die ich griffbereit neben mich gelegt hatte, und starrte auf den mit dicken Brettern verrammelten Eingang. Jenseits der Barrikade erklang ein Schleifen, als gleite etwas langsam an ihr herab. Ein Schnauben war zu vernehmen, laut und stockend, gefolgt von Geräuschen, die sich anhörten, als kratze jemand mit Metallklingen über das Holz.
    Meine Hand krampfte sich um die provisorische Waffe. Ich wusste nicht, was sich dort draußen an der Barriere zu schaffen machte, doch es war keinesfalls menschlich.
    Dicht über dem Boden ertönte nun ein Hecheln und Knurren, fast so, als hätte die Kreatur meine Witterung aufgenommen, gefolgt von einem Scharren, das klang, als wolle sie sich durch das Gestein graben. Erneut zitterte die Barrikade unter einem donnernden Schlag, dann vernahm ich sich rasch entfernende Schritte wie von einem riesigen Insekt. Ich entspannte mich ein wenig und wartete, bis ich sicher war, dass das Wesen nicht mehr zurückkehren würde. Dann schlich ich bis auf Armlänge an den Eingang heran. Auf dem Korridor war nichts zu hören.
    Vorsichtig setzte ich die Eisenstange an, hebelte einen der massiven Balken aus der Barriere und sah durch die neu entstandene Öffnung. Der Flur wirkte verlassen. Behutsam vergrößerte ich das Loch in der Tür und kroch nach draußen. Dort verharrte ich und lauschte. Durch den Turm heulte der Wind, sonst herrschte Stille. Der Ruß bedeckte Korridor verlor sich in einer weiten Biegung. Ich orientierte mich und schlug die Richtung ein, in der das Treppenhaus liegen musste. Alle fünfzehn Schritte klafften Türöffnungen in den Wänden. An jeder hielt ich inne, doch die dahinterliegenden Räume waren leer.
    Bizarre Insekten bevölkerten in dieser Höhe des Turms Böden, Decken und Wände, krochen, glitten, hüpften oder flogen davon, wenn ich in die Eingänge trat. Unablässig waren sie damit beschäftigt, sich zu vermehren und gegenseitig aufzufressen, sich immer weiter zu vermehren und zu fressen und zu fressen, nur um ihrerseits von den allgegenwärtigen Schwämmen gefressen zu werden, hüfthohen, unförmigen Klumpen, die wie Industriestaubsauger durch die Flure des Turmes krochen und alles absorbierten, was unter ihre aufgedunsenen Leiber geriet. Die Insekten reproduzierten sich jedoch ebenso schnell, wie sie dezimiert wurden. Alles war erfüllt vom Knistern und Schwirren ihrer Myriaden von Beinen und Flügeln.
    Meine Schritte waren nahezu unhörbar; der weiche, feuchte Schimmelteppich auf dem Boden des Korridors schluckte jeglichen Laut. Ein verstohlenes Geräusch, das wenige Meter weiter hinter einer scharfen Biegung erklang, ließ mich innehalten. Nach einigen Sekunden glaubte ich bereits, mich getäuscht zu haben, und ließ den angehaltenen Atem lautlos aus den Lungen strömen. Im gleichen Moment ertönte das Geräusch erneut - ein träges, gleichförmiges Scharren, bald begleitet von einem Keuchen und Knurren, das an die Laute erinnerte, die das Wesen vor der Barriere ausgestoßen hatte. Meine Handknöchel traten weiß hervor, als ich die Eisenstange fester umklammerte. Das Metall in meiner Faust fühlte sich heiß an. Ich holte tief Luft und näherte mich langsam der Korridorbiegung. Allerdings achtete ich dabei nicht auf den Boden - und auf das handgroße Insekt, das dort kauerte. Knirschend zerplatzte die Kreatur unter meiner Fußsohle.
    Augenblicklich erstarb das Knurren hinter der Kurve. Ich schrie auf, holte mit der Stange aus und schlug sie hart gegen die Mauer, dreimal, viermal, bis sie mir durch die Wucht der Aufschläge schier aus den Händen gerissen wurde. Ihr metallisches Dröhnen schallte verräterisch laut durch die Flure. Ehe der letzte Ton verklungen war, hob ich die Waffe mit beiden Händen weit über den Kopf und stürzte nach vorn, bereit, alles zu zerschmettern, was sich mir entgegenstellte.
    Der Gang hinter der Biegung führte zur Galerie. Schwere Bronzelüster hingen wie erstarrte Klauen von der Decke herab, an den Wänden vergammelten die Überreste von Gemälden und Gobelins. Von den Insekten und Schwämmen blankgenagt, lagen Fragmente menschlicher Skelette auf dem Boden verstreut; Handknochen, Rippenkäfige, Becken, Wirbelsäulen, Schädel …
    Flüchtig erkannte ich ein unförmiges, dunkles Etwas, das auf einer Vielzahl von Armen und Beinen davonrannte; ein Gebilde aus Käfer- und Spinnenbeinen, das einen sackartigen, pelzbedeckten Körper hinter sich her schleifte. Ein widerlicher Gestank wehte durchs Treppenhaus, abgesondert aus zahllosen Drüsen seines schwarzen, unförmigen Leibes. Heulend hetzte das Wesen abwärts und erzeugte einen Lärm, als poltere eine schwere Kiste die Treppe hinab. Es sah sich nur einmal um, warf mir einen unergründlichen Blick zu und war einen Lidschlag später verschwunden. Als sich das letzte Echo seiner Flucht in der Tiefe verloren hatte, senkte ich meine Waffe und lehnte mich mit hämmerndem Herzen gegen die Wand. Etwas nässte meinen Rücken, warm und klebrig, und zwang mich, mich umzudrehen.
    Von der Mauer troff breiiges, dunkelrotes Blut, formte ein vertrautes Symbol, bei dessen Anblick sich ein stechender Schmerz in meiner Brust ausbreitete. Etwas, das niemals fähig sein würde, zu leben, fing an, sich wieder in mir zu regen, begann umherzukriechen, in dem sinnlosen Versuch, an die Oberfläche zu gelangen. Sein blutiges Stigma rief mir in Erinnerung, wie alles begonnen hatte. Es verhöhnte die Schlange, die geglaubt hatte, sie sei stärker als der Drache …


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