Lord Gamma

Ein Nachwort von Jürgen Thomann zur Novellensammlung
»Die Stille nach dem Ton«


Die vorliegende Sammlung ›Die Stille nach dem Ton‹ ist aus verschiedenen Gründen exemplarisch für den Autor Michael Marrak, den viele immer noch vor allem als Zeichner surrealer Szenerien kennen, mit denen er in den letzten Jahren in einer großen Anzahl einschlägiger Publikationen vertreten war und diesen seinen ganz eigenen künstlerischen Stempel aufprägte. Weniger bekannt ist allerdings, daß für Marrak vor dem Zeichnen bereits das Schreiben stand; das eine geht mit dem anderen einher, und wie so viele Multitalente leidet auch er darunter, daß sich beide Ausdrucksformen gleichzeitig nicht befriedigend ausüben lassen. Der Zeichner Marrak ist seit zwei Jahren wegen seiner intensiven literarischen Auseinandersetzung zurückgetreten, wenngleich es ihn nach eigenem Bekunden hin und wieder juckt, sich auch weiterhin mit graphischen Mitteln auszudrücken.
Nach Einzelpublikationen, vor allem in seiner eigenen ambitionierten Magazinreihe ZIMMERIT, ist seit Mitte 1996 eine beachtliche Anzahl von Büchern erschienen: ›Grabwelt‹ (1996), die Sammlung seiner frühen Arbeiten aus den achtziger Jahren, ›Am Ende der Beißzeit‹ (1997), ein absurdes Theaterstück in Zusammenarbeit mit Gerhard Junker, ›Die Stadt der Klage‹ (1997), der erste Roman und sein bislang visionärstes Werk, sowie ›Der Weg der Engel‹ (1994/1998), ein weiteres, zusammen mit Agus Chuadar verfaßtes mythologisches Theaterstück. Mit ›Die Stille nach dem Ton‹ liegt nun eine weitere Sammlung mit Erzählungen vor, die für mich gleichzeitig ein beeindruckender Querschnitt des vielfältigen Œuvres Michael Marraks ist und dabei eine Art Wendepunkt darstellt. Manche dieser Texte haben weit zurückreichende Wurzeln, nehmen bekannte Themen wieder auf und fügen neue Variationen hinzu; es lassen sich darüber hinaus auch Ansatzpunkte finden, wie sich seine literarische Sprache in Zukunft weiterentwickeln könnte.

Mit ›Astrosapiens‹ kommt Michael Marrak der ›traditionellen‹ Science Fiction so nahe, wie es ihm nur möglich ist. Es lag somit nahe, daß gerade diese Geschichte in ALIEN CONTACT, dem Magazin der Herausgeber vorliegender Sammlung, vorabgedruckt wurde. Sie mag von den fünf hier versammelten die unspektakulärste sein, aber sie beweist, daß man diesen Autor wirklich nicht - wie schon mehrfach geschehen - als Horror-Schreiber abqualifizieren darf. Es ist das Schicksal der wandlungsfähigen Schriftsteller, daß man sie auf jene Facetten festlegt, die für einen selbst die markantesten darstellen, und die übrigen dafür ignoriert. Als prominentes Beispiel fällt mir spontan Dan Simmons ein, dem - gerade hierzulande - ähnliches angetan wurde.
Als Opener für diese Sammlung eignet sich der Text allerdings sehr gut - man bekommt sozusagen einen ›Marrak light‹ präsentiert. Die Handlung ist zunächst vermeintlich linear angelegt und anschaulich erzählt. In der ersten Szene bekommt man den Alltag eines Mannes geschildert, dessen blutiger Job es ist, die an Bord einer Raumstation teleportierte Fauna eines neu entdeckten Planeten zu eliminieren und für die wissenschaftliche Sektion weiterzuleiten, was allerdings nicht immer reibungslos verläuft - eine willkommene Gelegenheit für Marrak, seine grotesk-dunkle Phantasie spielen zu lassen.
Die Geschichte besitzt allerdings eine Moral - und diese kehrt die Exposition geradezu um. Die scheinbar unzusammenhängend eingefügten Zwischentexte stellen die eigentliche Realität dar und der gesamte erzählte Text lediglich eine Simulation.
Abgesehen davon, daß die Geschichte stimmig aufgebaut und unterhaltsam geschrieben ist, bekommt man mittels ihr sehr gut eine Überzeugung Marraks veranschaulicht, die Ansatzpunkte für seine anderen Geschichten geben. Für ihn ist der menschliche Standpunkt langweilig; er mag ihm als Sprungbrett dienen, mehr aber auch nicht. Seine Welten sind teilweise so fremd, wie man sie sich selbst nicht vorzustellen vermag; dabei schildert er sie aber so anschaulich, daß man geneigt ist zu glauben, er hätte sie mit eigenen Augen gesehen. Michael Marrak ist einer der wenigen Autoren, denen ich diese Vorstellung auch abnehmen würde.

Grönland ist ein ganz besonderer Fleck auf der Erdkugel - es liegt geographisch fast vor der Haustür von Amerika, orientiert sich jedoch faktisch nach einer langen politischen Zugehörigkeit zu Dänemark immer noch an Europa. Tatsächlich aber ist es weiterhin eine terra incognita, insbesondere für den Mitteleuropäer; daran ändert auch der große Erfolg von Peter Høegs ›Fräulein Smillas Gespür für Schnee‹ nichts. Grönland, das ›grüne‹ Land, Zwischenhalt der Wikinger auf ihrem beschwerlichen Weg zu einem neuem Kontinent, ist eine riesige Insel, fast schon ein Kontinent für sich, zu großen Teilen überdeckt von massivem Inlandeis und Gletschern gigantischen Ausmaßes.
Kurz gesagt: Es ist ein geradezu prädestinierter Ort für eine stellare Katastrophe, die jedoch geheimnisvoll bleibt und gleich wieder ins Vergessen abzugleiten droht. Der größte Einschlag eines Himmelskörpers in diesem Jahrhundert ereignete sich bereits 1908 in den Weiten der sibirischen Taiga, einem ähnlich abgelegenen und unergründlichen Gebiet wie Grönland - abgesehen davon, daß man die Opferzahl nur schätzen konnte, waren die Auswirkungen bis ins Ferne Europa zu spüren. Ganz anders aber bei dem in ›Der Eistempel‹ geschilderten Einschlag in eine polare Region.
Das ewige Eis ist ein verschwiegener Gastgeber. Es nimmt den unwillkommenen Eindringling in sich auf, verschluckt ihn und läßt ihn langsam in seine innersten Regionen abgleiten, um, nachdem sich der Einschlagskrater geschlossen hat, dem zufälligen Betrachter wieder eine glatte Oberfläche darzubieten, die keine Rückschlüsse auf die in ihm ruhenden Geheimnisse zuläßt. Ein machtvolles Bild, das Michael Marrak offensichtlich beeindruckte. Denn manchmal gibt das Eis auch Verborgenes preis; wie in diesem Fall, wo sich der angereisten Forschungsexpedition - scheinbar zufällig - ein noch weitaus spektakulärerer Fund enthüllt.
Die Entdeckung einer uralten Tempelanlage erweist sich als fatale Initialzündung für einen unheilvollen Prozeß. Die Rolle des an sich nur widerstrebend zur Forschergruppe gestoßenen Protagonisten deutet sich dabei bereits zu einem Zeitpunkt an, als auch der Expeditionsleiter die Situation nicht durchschaut und im Stile der klassischen Tragödie quasi als Sprachrohr des Schicksals fungiert: "Ja, da gebe ich Ihnen Recht, mein Freund, bisher ist alles eine Variation des göttlichen Planes. Wenn Sie weiterhin ein aufmerksamer Zuhörer bleiben, werden Sie jedoch bald feststellen, warum der Fall des Boliden und die Freilegung des Bauwerkes ein ebenso historisches Ereignis darstellen könnte, wie einst die Geburt des Nazareners." Und tatsächlich kommt es zu einer Art Geburt einer neuen göttlichen Macht - aber sie bringt das Verderben auf die Erde.
Marrak bewegt sich in ›Der Eistempel‹ natürlich auf den Spuren Howard P. Lovecrafts ›Berge des Wahnsinns‹, wie dem aufmerksamen Leser sicher nicht entgangen ist. Dieser Text dient ihm dabei als Grundlage, von der er seine eigene Kosmologie um Qutulu und die geheimnisvollen Alten Götter entwickelt, die sich ihren Weg in die Welt zurückerobern wollen und das Ende des Menschenzeitalters einläuten werden. Wo Lovecraft sich mit vagen, mysteriösen Andeutungen begnügt - seine Methode war, eine geheimnisvoll-grauenhafte Stimmung zu beschwören - wird Marrak vielmehr zum beredten Chronist der phantastischen Ereignisse, was sie schon fast wieder plausibel erscheinen läßt.
Als interessantes Detail in diesem Zusammenhang gilt es zu erwähnen, daß Ende letzten Jahres, wenige Monate nach Fertigstellung dieser Erzählung, tatsächlich ein Himmelskörper in Grönland niederging - vielleicht mehr als eine zufällige Koinzidenz? Und dieser Einschlag eines möglicherweise 100 Meter umfassenden Meteors ereignete sich mit ähnlich unspektakulären Effekten wie in ›Der Eistempel‹ geschildert. Die realen Ereignisse schreiben manchmal die phantastischsten Geschichten!

In ›Die Stille nach dem Ton‹ kann man sehr schön den Michael Marrak der Groteske am Werk sehen. Die Titelgeschichte weist eigentlich eine sehr düstere Grundhandlung auf. Nichts verunsichert mehr als die Entdeckung, daß einem zunehmend die Umwelt entzogen wird. Das, was man als selbstverständlich ansieht, ist mit einem Mal nicht mehr vorhanden - und die Umwelt ist sich dessen nicht einmal bewußt! Muß man da nicht am eigenen Verstand zweifeln? Starke Charaktere (und Freunde der phantastischen Literatur) zweifeln in solchen Fällen natürlich an der Verläßlichkeit der Realität.
Der ›Held‹ dieser Geschichte hat dafür seine Träume, in denen er Aufschluß erhält - wenn auch nur in Rätseln. Die Gottgestalt, die er in ihnen trifft, führt sich allerdings sehr merkwürdig auf. Spätestens hier wird der Leser irritiert sein, der sich auf eine ›schöne‹ dystopische Geschichte eingestellt hat. Der Hintergrund dieses göttlichen ›Kaspers‹ ist aber von fundamentalstem Rang. "Gott gibt es nicht", ist die Aussage des Autors, wie er die Gottgestalt der Geschichte sagen läßt: "Im Grunde (…) bin ich nur ein zur Gewohnheit gewordener Gedanke. Ein gestrandeter Geistesblitz kosmischer Seelengüte, ein religiöses Standardprogramm." (...) "Ein Plan."
›Die Stille nach dem Ton‹ ist ein im Detail sehr kunstvoll angelegter Text, was man bei seiner grotesk-ungeschlachten Handlung nicht denken sollte. Nicht von ungefähr heißt der Protagonist ›Radiant‹; ist er doch nicht der passive Erdulder der Umwandlung seiner Welt. Vielmehr dient er dem göttlichen Willen als Kristallisationspunkt, um in diese letztlich nur virtuelle Welt ›auszustrahlen‹.
Weitere Anspielungen lassen sich finden. Schon der Anfang mit dem Zitat aus dem Kultfilm ›Brazil‹ von Terry Gilliam gibt eigentlich die ganze Handlung vor. Genau auf die Weise, wie den anarchischen Monteur jener düsteren Zukunftswelt letztlich sein Schicksal ereilt, thematisiert die Handlung dieser Geschichte ein Verschwinden. Doch dieses Schwinden ist letztlich nur der Begleiteffekt einer Umwandlung. Die Realität ist lediglich ein Zwischenstatus, im steten Werden und Vergehen.

Die beiden übrigen Geschichten, denen ich mich in diesem Nachwort noch widmen möchte, habe ich mit Absicht an das Ende meiner Besprechung gestellt. Sie stellen für mich Höhepunkt und Quintessenz dieser Sammlung dar und entsprechen auch dem Innersten des Marrakschen Werkes. Hier findet man, was ihn antreibt zu schreiben, die tiefen Geheimnisse einer beispiellosen Phantasie. Geschichten wie ›Bruder Oz‹ und insbesondere ›Sadek‹ stammen aus dem selben Ursprung wie die besten seiner graphischen Werke. Sie sind Reiseberichte aus dunklen Seelenlandschaften, erschreckend, aber doch auch so faszinierend und auf eine seltsame Art attraktiv, weil archaisch und irgendwie uns allen eigen.

Eine Fortsetzung von George Orwells ›1984‹ schreiben zu wollen, ist schon ein gewagtes Experiment, um nicht zu sagen vermessen. Ich kann nicht behaupten, daß das in ›Bruder Oz‹ gelungen wäre. Das macht aber auch gar nichts - eine Fortführung in der Intention Orwells würde kaum in die heutige Zeit passen, wo die politischen Systeme längst nicht mehr die Rolle spielen wie einst und globale Megafirmen an ihre Stelle getreten sind.
Einmal mehr hat sich Michael Marrak von einem großen literarischen Entwurf inspirieren lassen und eine ganz eigene Arbeit abgeliefert. Ihn interessieren die politischen Aspekte von ›1984‹ überhaupt nicht - im Gegenteil, in seiner geschichtlichen Fortführung der Ereignisse führt er sie ad absurdum, indem er nach O'Brien als Nachfolger einen dritten ›Großen Bruder‹ zum Moloch mutieren läßt. Damit wählt er einen völlig konträren Ansatz zu Orwell, dessen Buch von vielen Kritikern überhaupt nicht als Science Fiction angesehen wird, sondern als mäßig verbrämtes politisches Pamphlet - und in der Tat atmet jener Text das Leben der frühen Nachkriegszeit mit seinen ärmlichen Mietskasernen, in denen sich der Kohlmief nie verzieht.
Und wieder mag sich der Leser getäuscht sehen, der von Marrak eine kohärente Geschichte erwartete; vielmehr spielt er mit bekannten dystopischen Entwürfen. Der Anfang z. B. weist einige Parallelen zu Philip K. Dicks Kurzgeschichte ›Die zweite Variante‹ auf, der künstliche Mond ›Bruder Oz‹ ähnelt dem fliegenden Kopf aus dem Film ›Zardoz‹ (der wie der Titel dieser Geschichte ein Spiel aus Frank L. Baums Jugendbuch ›The Wizard of Oz‹ ist). Eine derart überbordende, visionäre Phantasie läßt sich eben einfach nicht in das starre Korsett eines stringenten Plots zwängen; das ist - je nachdem, wie man es sehen möchte - Marraks Stärke oder Schwäche. Zwar werden im Text Jahreszahlen (das Ende spielt im Jahr 2184 unserer Zeitrechnung) erwähnt, und man bekommt nach und nach eine Vorstellung, was sich über die Jahrzehnte ereignet hat und wie es nun um Ozeanien und Eurasien bestellt ist, aber das ist letztlich nur Staffage für die eigentliche Handlung.
›Bruder Oz‹ handelt von der Ohnmacht des einzelnen, der sich zwar unkorrumpierbar zeigt, jedoch der Willkür des Systems ausgeliefert ist; für den Protagonisten der Geschichte, Vincent Paxson, endet sein altes Leben im ›Ministerium für Endgültigkeit‹. Gefoltert in jenem legendär-furchtbaren Raum 101 - und später seiner (imaginären) Erweiterung 102 - durchlebt er vergangene Kapitel aus seinem Leben. Marrak wählt insofern einen ähnlichen Ansatz wie Terry Gilliam in ›Brazil‹, daß er eine mögliche Flucht in die Phantasie andeutet; in der Konsequenz geht er aber viel weiter. Im Sinne des Orwellschen Schreckensszenarios wird durch die Manipulation der Erinnerung des Opfers auch die Vergangenheit verändert - selbst wenn dies eine Dekonstruktion des Geistes bedeutet. Eine erratische Abfolge sich steigernder Episoden dokumentiert diesen Auflösungsprozeß.
Im letzten Teil der Geschichte finden sich Passagen, die sich weit von der Grundhandlung entfernt haben und für sich selbst stehen können. Faszinierend ist für mich z.B. jenes Wesen Kupferrot, das eine beseelte Version des Blutes verkörpert - und in dieser Geschichte fließt viel Blut. Es spielt eigentlich keine handlungstragende Rolle, ist aber doch ein essentieller Bestandteil. Nichts Körperliches ist dem Menschen wirklich zu eigen, nicht einmal sein Blut. Nur sein Geist ist ohne Grenzen; frei, sich von der materiellen Welt loszusagen und sich eigene Realitäten zu schaffen. Die Grundfrage von ›Bruder Oz‹ ist letztlich eine hochphilosophische.

Dem Kenner von Michael Marraks Geschichten wird aufgefallen sein, daß ›Sadek‹ viel gemein hat mit ›Oxeia‹, erschienen in der letzten Ausgabe meiner Zeitschrift KOPFGEBURTEN, und Parallelen aufweist mit den visionären Schlußkapiteln in ›Die Stadt der Klage‹. Es ist denkbar, daß es noch weitere Texte aus diesem Umfeld geben wird, zu mächtig und furchtbar ist es, einer Obsession gleich, die es zu exorzieren gilt. ›Sadek‹ dürfte die am persönlichsten geprägte in dieser Sammlung sein.
Bereits in ›Bruder Oz‹ gibt es mit der Geheimpolizistin Alime eine dominierende Frauengestalt; und auch dort besteht ihre Aufgabe darin, den männlichen Protagonisten zu foltern. Schon andere Autoren haben den Zusammenhang zwischen Eros und Tod thematisiert; in ›Sadek‹ bekommt er jedoch eine neue Dimension. Die eigentliche, grausame weibliche Macht in dieser Geschichte ist nicht etwa Liju, die Lageraufseherin - nein, diese wird letztlich auch zum Opfer einer weitaus mächtigeren Kraft.
Auch hier sieht sich der Protagonist in einer körperlich extrem bedrohlichen Situation. Er ist eingekerkert und wird gefoltert; dabei scheint er aber geistige Kräfte zu besitzen, von denen sich seine Kerkermeister viel erwarten. Und just diese werden ihnen schließlich zum Verhängnis. Hier sieht man eine gewisse Fortführung von ›Bruder Oz‹, die erfahrene andere Wirklichkeit erweist sich jedoch als äußerst materiell und dringt vehement in die Realität der Menschen ein. Das ist möglich, weil dem Bedrängten eine mächtige Kraft zur Seite steht, ihn vielmehr dämonisch besitzt. Nicht von ungefähr hat diese Anima die Gestalt einer Spinne, welche nach dem Geschlechtsakt ihre überflüssig gewordenen ›Männchen‹ tötet. Und diese Macht ist extrem eifersüchtig und besitzergreifend, lauernd auf der Schwelle zwischen den Dimensionen. Wie in ›Der Eistempel‹ wird der hilflos ausgelieferte Protagonist auch in ›Sadek‹ zum Lotsen und Wegbereiter einer fatalen Entität.
Abgesehen von dieser packenden Grundhandlung überzeugt die Erzählung vor allem durch die visionären Entwürfe. Die Sequenz, in der sich der Protagonist als Teil einer riesigen verzerrten Uhr wiederfindet, formte sich vor meinem inneren Auge unwillkürlich zu einem Bild marrakscher Prägung. Bizarr und schrecklich, aber doch unwiderstehlich faszinierend. Hier, auf seinem ureigensten Gebiet fügen sich die Kapitel auch wirklich zu einem Gesamtentwurf zusammen. Somit ist ›Sadek‹ vom Schriftstellerischen auch der gelungenste Beitrag in ›Die Stille nach dem Ton‹.

Man kann gespannt sein, wie sich Michael Marrak weiterentwickeln wird. Gegenüber seinen frühesten Werken kann man ihm jedenfalls konstatieren, daß die Beschäftigung mit graphischen Ausdrucksmitteln seine Literatur befruchtet hat: Er malt Geschichten und erzählt Bilder. Und zu der Einzigartigkeit seiner phantastischen Szenarien kommt auch immer mehr eine handwerkliche Fähigkeit, die es bei aller Exzentrik für einen guten Text immer braucht. Ich erwarte mir für die Zukunft Erzählungen, in denen ihm die Symbiose von Form und Inhalt noch besser gelingt. So sehr ›Die Stadt der Klage‹ auch überzeugen konnte; die lange Form vermag seine Art Literatur kaum zu tragen.
Michael Marrak erwächst immer mehr zu einer festen Größe auf dem Gebiet der phantastischen Kurzgeschichte, wie es sie - gerade im deutschsprachigen Raum - nur wenige gibt. Ich kann mir gut vorstellen, daß er in absehbarer Zeit auch ein Thema für die ›professionelle‹ Literaturkritik sein wird. Nicht daß das einen Autor wie Marrak einen Deut kümmern sollte.

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